Snowboard-Olympiasieger Iouri Podladtchikov ist seit über sechs Jahren als Fotograf tätig. Es sind die Ästhetik des Mediums und die universelle Sprache des Bildes, die den 28-Jährigen faszinieren. «Inzwischen habe ich fast für jede Uhrzeit und jeden Ort eine Kamera», sagt der Leica-Fan.

Auf der einen Seite ist der Spitzensport, die «Ego-Welt», wie Iouri Podladtchikov sagt. «Hier ist alles auf Egoismus ausgerichtet, auf mich, meinen Körper, meine Psyche. Ich muss am Tag X bereit sein. Alles dreht sich um mich. Und zwar so extrem, dass meine Mutter in solchen Momenten keinen Sohn hat.» Als Snowboarder hat er an den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi für die Schweiz die Goldmedaille in der Halfpipe gewonnen. Und dabei das epische Duell gegen den Amerikaner Shaun White zu seinen Gunsten entschieden. Podladtchikov gelang im wichtigsten Augenblick seiner Karriere der Yolo-Flip, ein komplexer Sprung, den er zuvor als einziger und nur einmal gestanden hatte.

Das ewige Feuer                                                                       

Obwohl sich dieser Olympia-Sieg nicht toppen lässt, ist der Sohn russischer Eltern im Sport nach wie vor topmotiviert. «Der Titel hat das Feuer noch vergrössert: Im Snowboarden gibt es Läufe, die für die Ewigkeit sind, wie jener in Sotschi. Wenn du da ein Armrudern drin hast, musst du für immer damit leben. Das kann keine Goldmedaille lindern.» Die Suche nach dem perfekten Lauf treibt «IPod» an. «Wenn du Michael Jordan auf seine fast 40’000 Punkte ansprichst, die er in der NBA erzielt hat, dann sagt er dir, wie viele Fehlwürfe er hatte.»

Dieser Perfektionismus motiviert Iouri Podladtchikov auch in seiner anderen Welt, der Fotografie. Begonnen hat hier alles mit dem Wunsch, Momente festzuhalten, um sie auch zehn Jahre später noch einmal erleben zu können. «Als ich 2008 vor meinen ersten Olympischen Spielen viel herumreiste, suchte ich eine kleine, gut aussehende Kamera.»

Den Schlüsselmoment erlebte er am 9. 9. 1999, als Leica die M9 lancierte, die damals kleinste digitale Systemkamera der Welt mit Vollformatsensor im Kleinbildfilm-Format. «Das war für mich wie Geburtstag. Ich erhielt sie als einer der Ersten in der Schweiz.» Noch heute besitzt er mehrere M-Modelle, analoge und digitale. Insgesamt hat er über 20 Leica-Kameras. Kommerzielle Arbeiten erledigt er oft mit der Leica S, für die V-Lux 3 war er Werbebotschafter, die X1 hat er seinen Eltern geschenkt und jüngst begeistert ihn besonders die analoge Fotografie mit dem R-System oder der M7.

 

Mehr Kameras als Schuhe

«Mittlerweile habe ich mehr Kameras als Schuhe», grinst er. Kürzlich habe ihm eine Kollegin erklärt, weshalb sie so viele Schuhe besitze. «Sie sagte, sie brauche für jeden Ort, jede Gelegenheit und jede Uhrzeit das passende Paar. Genau so ist es bei mir mit den Kameras.» Die Treue zu Leica stand für ihn ausser Frage. «Ich mag die Haltung von Leica. Die entwerfen eine Kamera und ziehen ihr Ding durch. Sie machen mit Abstand die schönsten Kameras – und die kleinsten.»

 

Nach seinem Olympiasieg hat Iouri Podladtchikov begonnen, an der Universität Zürich «ein bisschen» Kunstgeschichte zu studieren. Er habe realisiert, dass die Fotografie ein Eintrittsmedium in eine viel grössere Welt der Verewigung sei. «Es gibt viele Ausdrucksweisen: Malerei, bildende Kunst, Performance.» Aber im Medium Fotografie stecke so viel Ästhetik, dass es ihn am meisten fasziniere. Aus ähnlichen Gründen habe er sich einst fürs Snowboarden statt fürs Skifahren entschieden.

 

Fotografieren statt schreiben

Geboren in Moskau als Sohn eines Professors für Geophysik und einer Mathematikerin, ist Iouri Podladtchikov ein Kosmopolit. Er war drei Jahre alt, als die Familie nach Schweden zog. Der Wohnsitz richtete sich immer nach den Universitätsstellen des Vaters. Nach vier Jahren in den Niederlanden kam Iouri als Zwölfjähriger nach Zürich und fand hier sein «seelisches Zuhause». Durch das viele Herumreisen habe er keine Sprache so gut gelernt, dass er sie als Muttersprache bezeichnen könne, sagt er in breitem Zürideutsch. «Mit meinen Eltern rede ich russisch, dazu spreche ich deutsch, ein bisschen französisch, ein bisschen englisch.» Aber obwohl ihn Deutsch als Fach sehr interessierte, habe er nie in einem Aufsatz eine 6 oder eine 5,5 erreicht. «Ich würde gerne schreiben, aber ich traue es mir nicht zu.»

 

Deshalb ist die Fotografie für ihn das ideale Ausdrucksmedium. «Die Bildersprache ist universell.» Auch in diesem Metier sorgte Podtladtchikov schnell für Aufsehen. Im Mai 2014 konnte er in der Lumas-Galerie in Basel ausstellen, und an der Foto 15, der grössten Werkschau für Schweizer Fotografie, war er mit Lina Baumann präsent. Er fotografierte schon für Vogue Russland und bestritt eine Titelseite von 20 Minuten Friday. Dazu kommen viele kommerzielle Aufträge, die er sehr gerne annimmt. Sicher sei ihm seine Bekanntheit zu Beginn nützlich gewesen, sagt der 28-Jährige. «Aber ein solches Mass an Anerkennung in der Fotografie hätte ich nie für möglich gehalten.»

Feinfühlige Porträtfotos


Am liebsten fotografiert der Zürcher junge Frauen. «Das sind die verletzlichsten Sujets überhaupt.» Er achte darauf, die Models so zu fotografieren, dass die Bilder ihnen selber Freude bereiten. Und erwähnt die Bescheidenheit, die er zu den schönsten Charaktereigenschaften eines Menschen zähle. «In der Fotografie ist es noch schwieriger, bescheiden zu sein. Dieses Medium erhält so viel Aufmerksamkeit und kann so viel Macht ausüben, dass dies oft missbraucht oder ausgenützt wird.» Auch er selber sei als Fotomodel schon «ausgezogen» worden, obwohl er die Kleider noch getragen habe. «Meine Verantwortung als Fotograf ist mir deshalb ganz besonders bewusst.»

 

Als Beispiel dafür nennt er die Porträtserie mit Topmodel Manuela Frey (20) im Central Park New York, die eher zufällig zustande gekommen ist. «Ich habe in New York mein Zimmer eingerichtet und mich mit ihr auf einen Kaffee verabredet.» Auf dem Weg in den Park habe sie ihn gefragt, ob sie auch mal auf seinem Skateboard fahren dürfe. «Es war unglaublich: Sie hatte es voll drauf und hat sich dann auch aufs Board gesetzt, wie ich es getan hätte!»

 

Als Fotograf wie als Sportler versucht Podladtchikov, Grenzen auszuloten und Momente voller Einzigartigkeit zu inszenieren. Er sieht aber auch Unterschiede zwischen den zwei Welten. «Beim Fotografieren hat man viel mehr das Gefühl, etwas gemeinsam erschaffen zu haben, nicht alleine.» Und während er beim Snowboarden in der Halfpipe völlig den Schiedsrichtern und ihrer Bewertung ausgeliefert sei, sei es beim Fotografieren genau umgekehrt. «Meine kommerziellen Kunden liefern sich mir komplett aus, denn ich bin es letztlich, der ihre Ideen nach seinem Gutdünken umsetzt.»

«Fotografieren beruhigt mich»

Mit der Fotografie als zweitem Standbein nimmt sich Iouri Podladtchikov auch sportlichen Druck weg. «Es gibt ein Polaroid-Foto von mir, das zeigt, wie ich am 10. Februar 2014 auf dem Balkon des Hotels mit meinen Leicas spiele.» Wohlgemerkt: Das war am Vorabend des entscheidenden olympischen Wettkampfs in der Halfpipe von Sotschi. Schon als Kind sei das Berühren von Gegenständen wichtig für ihn gewesen. «Meine Snowboards mussten immer in meiner Nähe sein. Mit den Kameras geht es mir gleich. Ich muss sie immer wieder in die Hand nehmen.» Klar gehe es für ihn auch um seine Zukunft, ums Geld verdienen. «Aber Fotografieren ist viel mehr für mich. Es hat etwas Meditatives, es beruhigt mich.»

 

Seine Einstellung zur Fotografie widerspiegelt auch Iouri Podladtchikovs Entwicklung als Mensch. Nach dem Snowboarden, wo alles vollständig auf ihn ausgerichtet sei, müsse er wohl für den Rest seines Lebens etwas weniger Egoistisches tun, sinniert er. Ich-Momente gebe es zwar auch in der Fotografie, aber viel schöner sei es, wenn man in den Betrachtern der Bilder etwas auslösen könne. Kürzlich habe er eine befreundete Band finanziell dabei unterstützt, ein Album zu produzieren. «Jemand anderem einen Traum zu ermöglichen, ist fast schöner, als dies für sich selber zu tun.» Um das zu merken, müsse man aber wohl zuerst gut zu sich selber sein.

 

Auf die Frage, wie er für sich den Sinn seines Lebens definiere, sagt er denn auch: «Aus mir einen Menschen zu machen, der anderen hilft und ihnen Dinge ermöglicht.» Auf dem Weg dahin ist die Fotografie ein wichtiges Mittel für Podladtchikov. «Es ist etwas Wunderbares, wenn aus dem Fotografieren etwas Physisches entsteht: ein Print in der Dunkelkammer, ein fertiges Bild mit Rahmen, das an der Wand hängt und den Menschen eine positive Energie vermittelt.»