Dieser Artikel ist als Original im LFI.MAGAZIN 04/2017 erschienen.


Gibt es eine bessere Kamera fürs Komponieren mit dem Noctilux-M 1:0.95/50 mm Asph als eine Leica M? Eine Leica SL vielleicht? Fotograf Jürgen Holzenleuchter hat das Objektiv an beiden Kameras ausprobiert.

Tun wir mal so, als spielte das Budget keine Rolle, und es ginge allein um die Frage: Wie lässt sich das Beste herausholen aus einem der bestechendsten aller Leica-Objektive, dem Noctilux-M 1:0.95/50 mm Asph? Indem man es an der MIO verwendet, der besten Messsucherkamera, die Leica je konstruiert hat, wäre die naheliegende Antwort.

Andererseits gibt es in der Leica-Welt eine kaum weniger naheliegende Alternative und sie heißt SL plus M-Adapter L. SL-Fotografen können, solange die Palette der Systemobjektive für diese Kamera noch überschaubar ist, so insbesondere im sehr starken Weitwinkelsegment und im sehr lichtstarken Bereich ihre Optionen erweitern; wer noch gar nicht auf ein System festgelegt ist, sich aber für das Noctilux um seiner selbst Willen interessiert, könnte ins Grübeln kommen; und Letzteres gilt auf andere Weise auch für M-Fotografen, ob schon mit oder noch ohne Noctilux. Wie gesagt: Budgetfragen bleiben außen vor.


DIE SYSTEMFRAGE.

Doch warum könnte dann die Systemfrage überhaupt relevant sein? Ein bemerkenswerter Aspekt am M-System ist ja die Gleichzeitigkeit des

Ungleichzeitigen, die in ihm verkörpert ist. Der Messsucher — ein haptisches Vergnügen, seit mehr als 60 Jahren im Prinzip gleich geblieben. Rasante Entwicklung, in immer neue Extreme getriebene technische Verfeinerung findet hingegen bei den Objektiven statt.

Das Designen mit Asphären, mit exotischen, kompliziert zu bearbeitenden Glassorten, die Konstruktion feinster Einstellmechaniken – all das hat bewirkt, dass über das M-System gesagt werden kann: Kein anderes Kleinbildsystem bietet so leistungsfähige hochlichtstarke Objektive, keines ist kompakter gebaut, keines ist einfacher zu handhaben.

Und natürlich: Keines sonst setzt ausschließlich auf manuelles Fokussieren, nebenbei gesagt eine der Voraussetzungen für die kompakte Bauweise.

Aber: Passt das Potenzial der hochgezüchteten Objektive noch zum ehrwürdigen Messsucher? Zumal unter den strengen Bedingungen der digitalen Bildentstehung und -beurteilung?

Ja, es passt — vorausgesetzt, es liegt keine mechanische Dejustierung vor, und vorausgesetzt, das zu fokussierende Detail liegt in der Bildmitte. Diese prinzipbedingte Eigenheit des Messsuchers ist eine seiner größten Schwächen — Verschwenken der Kamera, um den Fokus zu setzen, und Zurückschwenken für die Definition des Bildausschnitts bedeutet: ungenaue Fokussierung. Zumal bei einem Objektiv wie dem Noctilux — einem der forderndsten Objektive im M-Sortiment. Denn es will natürlich bei voller Öffnung verwendet werden; dafür, es abzublenden wie jedes beliebige andere 50er auch, ist es denn doch zu voluminös.

Warum sollte man derlei dann mit sich herumtragen? Doch nur, um eine hauchdünn akzentuierte Schärfeebene, die diese Bezeichnung auch verdient, zu kombinieren mit bildbestimmender Unschärfe, wie sie harmonischer nicht sein kann. Herrliche kompositorische Möglichkeiten resultieren daraus, die Aufmerksamkeitslenkung durch gezielte Hervorhebung eines Details, die Erzeugung einer starken Illusion von Räumlichkeit, eine malerische Abstraktion. Es kommt nur darauf an, die manuelle Fokussierung zu meistern, ohne dass Frustration Einzug hält: Wenn schon Schärfeebene, dann soll sie auch scharf sein.

Wie sieht das der Fotograf Jürgen Holzenleuchter, der seit vielen Jahren mit dem M- System arbeitet, aber noch nie das Noctilux im Einsatz hatte? Wir haben ihm das Objektiv nebst MIO und SL überlassen und ihn gebeten: Sammle Erfahrungen, bilde dir ein Urteil.

LEICA M10, NOCTILUX-M 1:0.95/50 MM ASPH

Es ist vor allem dann eine Herausforderung, mit dem voll geöffneten Noctilux an der M scharfzustellen, wenn das zu fokussierende Detail außerhalb der Bildmitte liegt, also Schwenken, Scharfstellen und Rekomponieren erfordert
AN DER M10.

Erfahrung eins: ziemlich viel Ausschuss an der M. Erfahrung zwei: Es hilft, den elektronischen Visoflex-Aufstecksucher zu benutzen. Erfahrung drei: Noch besser geht es tatsächlich mit der SL.
Es ist ja nicht so, dass Leica nicht bewusst wäre, dass ein Objektiv wie das Noctilux das Messsucherprinzip fast schon überreizt. Sonst gäbe es ja den Visoflex mit seiner zweistufigen Vergrößerung und dem Focus Peaking, der farbigen Hervorhebung der Bildteile mit den kontrastreichsten Kanten, nicht.
Er macht nicht nur eine etwaige Dejustierung bedeutungslos, denn er zeigt exakt, was der Sensor sieht; er erleichtert auch die Komposition, denn die Fokusebene kann beliebig im Bild platziert sein. Andererseits: Der Visoflex ist ein Fremdbauteil, das an der M nicht wirklich elegant wirkt, seine 24

Millionen Pixel und eine gewisse Latenzzeit lassen ihn als Behelf erscheinen, in klarem Kontrast zum Messsuchereinblick, ganz zu schweigen davon, dass ach dem Auslösen der Sucher wenig M-like kurz dunkel bleibt; und schließlich, das störte Holzenleuchter fast am meisten, schmälert er die bei der MIO ohnehin etwas knappe Laufzeit des Akkus spürbar. Es gab durchaus Erwartungen kurz vor erscheinen der M10, dass Leica eine Lösung vorstellen würde, die die Funktion des Visoflex irgendwie inkorporieren würde; es kam anders, die M10 ist vielmehr ein Bekenntnis zu klassischen M-Tugenden geworden.



LEICA SL, NOCTILUX-M 1:0.95/50 MM ASPH

What you see is what you get – intuitives Arbeiten mit direkter Beurteilung der Wirkung der Verteilung von Schärfe und Unschärfe im Bild ermöglicht die SL, deren Sucher brillant genug ist, um selbst ohne Fokussierhilfe eine sichere Scharfstellung zu meistern 


AN DER SL.

Womit wir zur SL kommen. Zu deren Attributen zählt eine 1/8000 und sogar eine elektronisch gebildete 1/16 000 Sekunde, zudem erlaubt sie eine Empfindlichkeit von ISO 50 zu wählen. Auch ohne Graufilter ermöglicht sie somit, die Noctilux-Ästhetik universal zur Geltung zu bringen, also auch in Lichtsituationen, bei denen die extreme Öffnung eher nicht üblich wäre.

Schon das prädestiniert sie zu einer Noctilux-Kamera. Vor allem aber lässt der brillante elektronische Eye-Res- Sucher mit seinen 4,4 Millionen Pixeln es zu, bereits ohne Focus Peaking zu einer recht sicheren Beurteilung der Schärfe selbst bei Blende 0.95 zu gelangen. Angenehm auch: die ergonomische Erfahrung, dass die SL wie gemacht zu sein scheint für die Ausbalancierung eines so schweren Objektivs, welches an der M stets etwas kopflastig wirkt.
Was Holzenleuchter als M-Fotograf erwartungsgemäß irritiert hat, ist der gewissermaßen doppelte Tunnelblick: Man sieht eben durch die SL exakt das Bild, das entsteht, nicht wie mit dem M-Sucher als „Fenster zur Welt» auch das Geschehen jenseits des Leuchtrahmens, das zu sehen für M-Fotografen traditionell eine beliebte Komponierhilfe ist, und man nimmt eindeutig nur wahr, was gerade scharfgestellt ist, während der Messsucher hier keine Unterschiede macht. Umgekehrt heißt das: Es lässt sich unmittelbar beurteilen, wie die Verteilung von Schärfe und Unschärfe wirkt — während der M-Fotograf derlei im Kopf zu imaginieren hat.


Mit 1/8000 s und ISO 50 fotografieren zu können, wie es die SL erlaubt, macht das voll geöffnete Noctilux durchaus vielfältiger einsetzbar, wie diese Gegenüberstellung erahnen lässt. An der M10 bei 1/4000 sec und ISO 100 galt es auf 2.0 abzublenden

FAZIT.

Holzenleuchter gäbe zwar der M10 den Vorzug, einfach weil er ungern mit einer größeren Kamera unterwegs sein möchte. Doch fand er in Verbindung mit dem Noctilux die SL derart überzeugend, dass er sich umentscheiden würde, würde sich das Noctilux je als für seine Arbeit unverzichtbares Objektiv erweisen.

Das Schöne ist also: Wer sich mit dem Messsucher-fokussieren schwertut, kann dennoch, und ganz unkompliziert und intuitiv, die fantastische Charakteristik des Noctilux für seine Bildsprache nutzen — mit der SL.

Text: OLAF STEFANI