Dieser Artikel ist als Original im LFI.Magazin 03/2018 erschienen. Text von Anna Effes


Die Abbildungsleistung eines Objektivs ist ausschließlich eine Frage der Physik und des verwendeten Materials. Wirklich? Gilt das auch für das Bokeh, eine Bildwirkung, bei der die subjektive Frage des Geschmacks ins Spiel kommt? Annäherungen an einen unscharfen Begriff.

Detailauflösung, Kontrastwiedergabe, Grad der Verzeichnung, Vignettierung — allesamt Aspekte der Abbildungsqualität eines Objektivs, die sich messen lassen. Also objektivierbar sind. Harte Fakten. Und das, was Optikdesigner zu optimieren suchen und was dem Marketing als Verkaufsargument dient. Dann wäre da aber noch das Bokeh. Ein Konzept, das der an ästhetischen Charakterisierungen reichen japanischen Sprache entstammt und der Überlieferung nach irgendwann Mitte der 1990er-Jahre in den allgemeinen, fotografischen Sprachgebrauch weltweit eingesickert ist, wahrscheinlich durch eine Artikelreihe in der US-Zeitschrift PhotoTechniques. Gemeint ist damit die Art und Weise, wie Unschärfe im Bild dargestellt wird.

Angesichts dessen, dass Unschärfe in der Regel nicht das ist, was ein Fotograf absichtsvoll zu erreichen gedenkt, könnte man Bokeh für eine randständige, zu vernachlässigende Größe halten. Andererseits: Wer lässt sich nicht beeindrucken etwa von einer Porträtaufnahme, bei der das Gesicht plastisch herausleuchtet aus einem Umfeld, in dem die Details mehr oder weniger aufgeweicht sind in schmeichlerischer Duftigkeit; bei der die Wimpern knackscharf sind, aber der Haaransatz womöglich schon nicht mehr? Schärfe kommt erst in Relation zu Unschärfe so richtig zur Geltung, könnte man sagen,  die Plastizität des Abgebildeten lässt sich umso markanter als Simulation von Körperlichkeit, von Räumlichkeit in die Zweidimensionalität des Bildes überführen, je mehr Variation von Zerstreuungskreisdurchmessern dort auftaucht, also Scharfes und sukzessive unschärfer werdende Details zu einer kompositorischen Einheit werden.

BOKEH – „GUT» UND „SCHLECHT».

Bokeh ist ein genuin fotografisches Mittel ein Bild der Welt zu erzeugen: Unserem Sehsinn mit seinem eingebauten Autofokus gelingt es nicht, eine Szenerie so zu überblicken dass wir gleichzeitig das fokussierte Detail und den ganzen Rest in unserem Sehfeld auf uns wirken lassen können. Auch die klassische Malerei widmet in der Regel den Details in allen Bildebenen dieselbe Aufmerksamkeit — als fotografierte man mit einem stark abgeblendeten Objektiv.

Kompositorische Einheit heißt, das Spiel mit Schärfe und Unschärfe zum Beispiel dazu zu nutzen, deutlich zu differenzieren zwischen Wichtigem und Unwichtigem in der beabsichtigten Bildaussage. Dass dabei das vermeintlich Unwichtige mitunter den Bildcharakter wesentlich formt, gehört zu den Eigentümlichkeiten des Gestaltens mit Bokeh — man denke zum Beispiel an den dramatischen Effekt, wenn Spitzlichter im Hintergrund sich zu großen diffusen kreisförmigen Flecken wechselnder Lichtintensität aufplustern, ein populäres Mittel, das allerdings auch gern um seiner selbst willen zum Einsatz kommt und oft bis hin zum Kitsch überstrapaziert wird.

Während eine duftig-diffuse Auflösung von Bildinhalten jenseits der Schärfeebene aber auch eine willkommen „romantische» Bildwirkung entfalten kann, ist ebenso denkbar,  dass ein Bokeh als geradezu  störend, als Unruhe erzeugend wahrgenommen wird und die Absicht verfehlt, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das scharfe Hauptmotiv zu lenken. Tendenziell unharmonisch wirkt eine Wiedergabe der unscharfen Bereiche mit Doppelkonturen, was mitunter geradezu harsch anmutet – ihr entspricht zumeist eine Wiedergabe der erwähnten Spitzlichter mit definiertem Rand (Seifenblaseneffekt).

Derlei Unterschiede sind es, die von eher „gutem» und eher „schlechtem» Bokeh sprechen lassen, wobei solchen Charakterisierungen allerdings grundsätzlich eine hoch subjektive Note innewohnt.

EINE FRAGE DES OBJEKTIVS.

Bokeh ist also eine Frage des kompositorischen Geschicks — aber es ist auch ein Attribut des verwendeten Objektivs. Wie es zutage tritt, gibt in gewissen Grenzen Auskunft über den generellen Korrektionszustand einer optischen Rechnung. Denn was ist Unschärfe? Eigentlich die übertrieben große Sichtbarwerdung der Zerstreuungskreise, zu denen das von Objektpunkten ausgehende Licht beim Durchgang durch ein optisches System bis zum Auftreffen auf die Bildebene wird.

Optische Linsen verursachen Abbildungsfehler, eine hundertprozentig makellose Übersetzung von Objektpunkten in Bildpunkte lässt sich mit ihnen nicht erreichen, dazu sind die Brechungsvorgänge im Glas allzu komplex. Das schwierige Geschäft des Optikdesigners besteht darin, eine gute Balance zu finden durch geschickte Variation und Kombination von Linsenformen und -radien, von Glassorten mit verschiedenen Brechungseigenschaften, Abständen der Elemente zueinander, sodass für Licht unterschiedlicher Wellenlängen, unterschiedlicher Einfallshöhen in Relation zur optischen Achse und unterschiedlicher Einfallswinkel eine möglichst günstige Strahlvereinigung auf der Fokusebene erreicht wird und man also hier von maximaler Annäherung an die Punktförmigkeit des Objektseitigen Ursprungs sprechen kann.

Es gibt hier einen der Physiologie des Auges geschuldeten Toleranzraum, innerhalb dessen die Zerstreuungskreise, welche die Bildpunkte eigentlich sind, noch als scharf interpretiert werden,  das ist die Schärfentiefe, welche sich steigern lässt, indem man die Blendenlamellen schließt, also Randstrahlen von der Bildentstehung ausschließt. Mit Bokeh gestalterisch zu arbeiten aber heißt natürlich: die Schärfentiefe minimieren.

WAS LEICA AUSZEICHNET.

Leica investiert seit Jahrzehnten erheblichen konstruktiven Aufwand in das Vorhaben, die Blende als Qualitätskorrektiv überflüssig zu machen. Sprich also Objektive zu schaffen, die auch schon bei voller Öffnung ihr Qualitätsoptimum erreichen, egal, wie groß das Öffnungsverhältnis ist. Ursprünglich gründete der Antrieb, hochgeöffnete Objektive zu entwickeln, darin, Instrumente bereitzustellen, die dem Fotografen auch bei wenig Licht und mit nicht ganz so empfindlichen Filmen ein flexibles freihändiges Arbeiten ermöglichten; diese waren optimiert auf die Unendlich-Distanz, und dass bei deren Unterschreiten zwangsläufig Unschärfe mit ins  Bild geriet, wurde eben hingenommen.

Erst nach und nach hat sich ein Bildstil etabliert, bei dem die weit geöffnete Blende ein Gestaltungsmittel per se wurde, um den Eindruck von Plastizität hervorzurufen, der aus dem Vorhandensein bildbestimmender Unschärfe resultiert — und der eben auch Bokeh als Begrifflichkeit relevant werden ließ.

Mittlerweile ist es ein Alleinstellungsmerkmal von Leica, Objektive zu konstruieren, die hohe Lichtstärke (also großes Öffnungsverhältnis) mit höchster Fehlerkorrektur kombinieren. Und wer mit einem Summilux oder gar Noctilux fotografiert, wird dazu neigen, wenn schon, dann auch mit weit geöffneter Blende damit zu fotografieren. Was bedeutet, dass Unschärfe ein wesentliches Element seiner Bilder sein wird.

Was mag ihm dabei auffallen? Zum Beispiel eine sehr ausgeklügelte, sanfte Behandlung der sphärischen Aberration als eines der wichtigsten monochromatischen Bildfehler. Sphärische Aberration heißt, dass die Kugelgestalt einer Linse bewirkt, dass von einem Objektpunkt ausgehende Strahlen einen unterschiedlichen Brennpunkt aufweisen, je nachdem, ob sie achsnah oder achsfern sind. In der Ebene des Sensors oder Films bildet sich also eine Art Strahlenbüschel, keine punktförmige Vereinigung, sondern bestenfalls eine Einschnürung von Strahlen die sogenannte Kaustik.

Im Bild zeigt sich das als durchaus scharfes Detailzentrum, das ein kontrastreduzieren-  der Hof umgibt — eine insgesamt flaue Anmutung ist die Folge. Sphärische Aberration lässt sich korrigieren – übermäßig, indem die Randstrahlenvereinigung hinter die Bildebene gelenkt und auf diese Weise der Büscheldurchmesser minimiert wird; in der Schärfeebene bewirkt das einen Zerstreuungskreis mit tendenziell energiearmem Zentrum und tendenziell energiereichem Rand.

Im Unschärfebereich aber resultiert das in Zerstreuungskreisen, die vor der Schärfeebene das Zentrum, hinter der Schärfeebene aber den Rand betonen (der oben erwähnte Seifenblaseneffekt). Leica setzt tendenziell eher auf eine Unterkorrektion, entsprechend werden sich die Zerstreuungskreise im Bild-hintergrund eher mit hellem Zentrum und energiearmem Rand darstellen. Weil ein unscharfer Hintergrund in der Regel bildwirksamer ist als der Vordergrund, resultiert aus diesem Korrektionsmuster ein generell insgesamt harmonischer wirkendes Bokeh. Hinzu kommt: Aktuelle Rechnungen weisen aufgrund ihres hohen Korrektionszustandes ein erhebliches Gefälle zwischen Schärfeebene und unscharfem Bereich auf, während es bei älteren Rechnungen eher ein allmählicher Übergang ist.

Apo-Summicron-M 1: 2/50 mm Asph

Das fällt besonders beim Apo-Summicron-M 1: 2/50 mm Asph auf. Freilich ist bei diesem ebenso auffällig, dass sich hier ein Bokeh zeigen kann, welches man auch als unruhig bezeichnen könnte, je nach Hintergrundmotiv. Der Grund: die Winzigkeit der Fassung mit ihrem Filterdurchmesser E39 — die Austrittspupille nimmt damit durch natürliche Vignettierung bei voller Öffnung am Rand eine Art Katzenaugengestalt an, und entsprechend entfaltet das Bokeh eine wirbelnde Wirkung. Dieser Verwirbelungseffekt, von dem man sich leicht ein Bild machen kann, indem man zum Beispiel sein Modell vor einem belaubten Baum fotografiert, ist aber wiederum in seiner „Sauberkeit» etwas ganz anderes als ein auf den ersten Blick ähnliches Phänomen, wie es bei Aufnahmen mit einem frühen 50er-Summilux aus den 960er-Jahren zutage tritt: Die nur schwer korrigierbare Koma, gewissermaßen die sphärische Abberation der schräg einfallenden Lichtbüschel, bewirkt hier, dass die Zerstreuungskreise vom Zentrum zum Bildrand hin immer deutlicher eine von einem dem Schweif eines Kometen begleitete Form (daher: Koma) annehmen.

Noctilux 1:1/50 mm

Nostalgiker haben durchaus ein Faible für diese Anmutung, die sich auch in Objektiven wie dem Noctilux 1:1/50 mm und dem Summilux 1:1.4/75 mm findet — dass die allgemeine Cremigkeit, die diese Designs kennzeichnet, aber mit einem gelungenen Bokeh gleichzusetzen wäre, während die aktuellen, mit Asphären ausgestatteten hyperkorrigierten Rechnungen an Zauber eingebüßt hätten, ist ein Mythos.

Auch wenn Bokeh kein explizites Designkriterium für Leica ist, so ergibt sich dennoch aus dem gewählten Korrektionsansatz eine Berücksichtigung der Unschärfe, die sich als wesentliches Qualitätsmerkmal beschreiben lässt. Mit möglichst wenigen Linsenelementen einen entspannten Strahlendurchgang zu erzielen — das ist ein Weg, der bereits in der Leitz’schen Mikroskopfertigung gegangen wurde und der in der Kreation von Fotoobjektiven zu einer Vollendung gekommen ist. Der Einsatz von Asphären dient bei Leica dazu diese Minimierung von Elementen in die Tat umzusetzen, und damit verbunden ist ein erheblicher konstruktiver Aufwand, um den auf diese Weise zu erreichenden Korrekturzustand auch zu realisieren.

Würden die mitunter um Nanometer von der Kugelgestalt abweichenden asphärischen Linsen nicht so sorgfältig poliert — Zwiebelringe statt weicher Unschärfekreise wären die Folge. Aktuelle Leica-Objektive haben mithin nicht zufällig den Preis, den sie haben — der Blick auf MTF-Diagramme als Beurteilungsbasis der optischen Darstellungsleistung greift zu kurz, um würdigen zu können, welches bildnerische Potenzial ihnen innewohnt.

BOKEH OR NOT BOKEH.

Bokeh ist und bleibt eben ein komplexes Phänomen. Als gestalterisches Mittel ist es verführerisch, aber man kann es auch übertreiben. Etwa indem man so viel Unschärfe ins Bild lässt, dass dieses um des Effekts willenjeglichen Umgebungskontexts beraubt ist.

SUMMILUX-M 1:1,4/24 mm ASPH.

Da ist es doch schön, im M-System Objektive wie das 21er- und 24er- Summilux vorzufinden, die beides bieten: viel Bildinhalt und zugleich signifikantes Freistellpotenzial. Mit einer Darstellungsqualität der unscharfen Bildbereiche, in der sich eine lange Tradition der ausgewogenen Fehlerkorrektur widerspiegelt. Und die sich erst im Erleben und Ausprobieren wirklich erschließt.

ANN EFFES