Lebten wir in einer perfekten Welt, dann hätte sich Katie Stubblefield nicht im Alter von 18 Jahren bei einem Selbstmordversuch mit einem Gewehr einen großen Teil ihres Gesichts weg geschossen. Aber sie tat es und überlebte irgendwie – und wurde die jüngste Empfängerin eines Gesichtstransplantats in den USA. In nur einem Moment hatte Katie einen Teil ihrer Stirn, ihre Nase und Nebenhöhlen und ihren Mund bis zu den Winkeln der Lippen verloren sowie viele der Knochen, die die Kiefer und die Vorderseite ihres Gesichts ausmachten. Ihre Augen blieben erhalten, saßen aber schief und waren schwer verletzt. Sie konnte nicht gehen, reden oder sehen. Die Ärzte rechneten nicht damit, dass sie überleben würde, aber Katie bewies das Gegenteil, obwohl sie keine Erinnerung an ihren Selbstmordversuch hatte. Entschlossen begann sie wieder zu laufen, und obwohl es schwer war, sie zu verstehen, fing sie wieder an zu sprechen. Ihre Sehkraft stabilisierte sich so weit, dass sie Licht und Schatten unterscheiden konnte. Es war ein Wunder. Dies ist eine Geschichte über die wissenschaftlichen Grundlagen der Gesichtstransplantation, die als Tragödie beginnt, als ein schönes Mädchen ihr Gesicht durch eigene Hand verlor, aber letztlich erzählt sie von Erlösung und der Möglichkeit eines neuen Lebens.
Ich habe Katie und ihre Eltern Alesia und Robb Stubblefield in den letzten zweieinhalb Jahren fotografiert, in denen sich Katie zahllosen Operationen unterziehen musste, unzählige Male im Krankenhaus war und Hunderte Male Spezialisten und Therapeuten aus Medizin und Psychologie aufsuchen musste, um eine Geschichte für „National Geographic“ zu illustrieren. Unter dem Titel „Die Geschichte eines Gesichts“ von Joanna Connors war es die Coverstory der Septemberausgabe 2018. Ich hatte diesen Auftrag erhalten, weil Bildchefin Sarah Leen das intime Werk über meine Mutter, eine Wissenschaftlerin, die ihr Gedächtnis verloren hatte, kannte. Aufgrund dieser Arbeit, die in neun Jahren entstanden war, glaubte Sarah, dass ich die für diese Geschichte erforderliche Sensibilität besäße. Bildredakteure versuchen, den geeigneten Fotografen für eine Geschichte zu finden, nicht nur hinsichtlich des fotografischen Stils, sondern auch wegen seiner Fähigkeit, ein Thema auf vertrauensvolle Weise visualisieren zu können, sodass die Protagonisten ihre Geschichte erzählen können, ohne Urteil oder Vorurteil fürchten zu müssen.

(Foto: Maggie Steber/National Geographic)
Ein Jahr und einen Tag vor Katies Transplantation
Katie und ihre Eltern genießen einen sonnigen Frühlingstag und machen ein Nickerchen in einem Park in der Nähe der Cleveland Clinic. Mit Katie im Rollstuhl hatten die drei den Park erkundet, waren zwischen blühenden Bäumen und singenden Vögeln umhergewandert

 

Zuvor war Katie einen Monat lang im Krankenhaus gewesen. Sie war operiert worden, um ein sogenanntes Distraktionsgerät anzubringen, das ihre Augen neu positionieren sollte und aussah wie etwas aus dem Mittelalter. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Katie kennen. In den drei Jahren vor ihrer Transplantation war Katie mehr als ein Dutzend Male im Krankenhaus gewesen. Es war ein kalter, regnerischer Tag am Ende des Winters und Katie hatte enorme Schmerzen. Ein Arzt kam herein und zog die Schrauben am Gerät an, um Katies Augen näher zusammenzurücken – eine Vorbereitung auf die erhoffte Transplantation eines Spendergesichts. Das war nicht die Zeit, eine Familie sich selbst zu überlassen. Das war die Zeit, der Familie zuzuhören, ihr die Zeit zu geben, mich kennen zulernen und ich sie. Erst danach begann ich zu fotografieren. Es ist immer eine Herausforderung, sich so einer Katastrophe sinnvoll zu stellen, ohne die Privatsphäre und Gefühle der Protagonisten zu verletzen. Meistens habe ich Katie fotografiert, die unter ständigen, manchmal starken Schmerzen litt. Ihre Eltern waren Lehrer und hatten ihr eigenes Leben fast ganz aufgegeben; sie widmeten sich als hingebungsvolle Betreuer und Experten für alle Medikamente und Therapien ganz ihrer Tochter. Sie scheuten sich nie, ihren Chirurgen zu sagen, welche Hoffnungen sie mit einem neuen Gesicht für Katie verbanden. Nach der großen Anstrengung, alle medizinischen und emotionalen Hürden zu überwinden, wurde Katie schließlich auf die Zulassungsliste gesetzt – als jüngste Kandidatin für eine Gesichtstransplantation in den USA.

(Foto: Maggie Steber/National Geographic)
Sechs Monate und vier Tage vor Katies Transplantation
In einem Untersuchungszimmer hält Katie ein Instrument, um die Schärfe ihrer Augen zu messen. Robert Engel, Augenoptiker an der Cleveland Clinic, untersucht ihre Hornhäute und ersetzt bei einem Auge die Kontaktlinse, die die Hornhaut vor Abrieb durch nach innen wachsende Wimpern schützen soll.

 

Wenn ich nach Cleveland kam, um Katie, ihre Familie und die Besuche bei verschiedenen Ärzten zu fotografieren, wusste ich vorher nie, was mich erwartete. Es war unmöglich, Pläne zu machen, also folgte mein Plan den Plänen der Familie. Dadurch, dass ich in diese Pläne einbezogen war, gelang es mir nicht nur, Katies Kampf zu dokumentieren, sondern ich drang zum Kern der Geschichte und der Familie vor. Sie teilte alles mit mir. Wir sprachen offen über das Unglück, die verschiedenen Ursachen, darüber, was Katie erinnerte und was nicht, was Katie erlebte, und über ihre Ängste, Hoffnungen und Träume für die Zukunft. Ich schätze, dass Katie etwa 70 Prozent der Zeit, die ich mit Fotografieren beschäftigt war, im Krankenhaus war oder einen ganzen Tag mit Arztterminen und Therapien hinter sich brachte. Es gehörte wirklich Disziplin dazu, neue Gelegenheiten zum Fotografieren zu finden, neue Dinge, neue Ereignisse und kleine Fortschritte. Das war nur durch die intimen Einblicke möglich, die mir die Familie gewährt hatte.
An manchen Tagen hatte ich Mühe, mich selbst in dieser Geschichte zu sehen, und fragte mich, wann und ob ich meine Aufnahmen der Ereignisse überhaupt weitergeben konnte. Ich hatte oft Versagensängste, was sehr frustrierend ist – aber das treibt uns auch an, weiterzumachen und auch aus wenig ein Bild zu machen oder das Detail zu finden, das ich während des letzten Krankenhausaufenthalts verpasst hatte. Ich verstehe, wie es ist, auf diese Weise zu leiden, ich habe Krisen in Afrika dokumentiert und über 30 Jahre lang in Haiti, wo sich Frieden und blutige Gewalt ständig abwechselten. Aufgrund dieser Erfahrungen kann ich in fast jeder Situation arbeiten und ich verstehe den Druck, unter dem Katie stand, als sie sterben wollte. Wenn ich mal einen schlechten Tag hatte, erinnerte ich mich daran, dass diese Geschichte so viel größer war, dass es nicht tragische Ereignisse sind, die uns bestimmen, und dass der Sieg darin besteht, zu überleben und die Wissenschaft voranzubringen – was nicht nur Katie hilft, sondern auch vielen anderen Menschen.
Weil ihre Eltern so fest an Katie glaubten und ihre Fähigkeit, in ein richtiges Leben zurückzufinden, musste ich auch an sie glauben. Ich sah ihre Eltern bald als Krieger ihrer Tochter, sehr engagiert, um das Beste für sie zu erreichen, aber auf eine sanfte und intellektuelle Weise, die in ihrem tiefen Glauben an Gott wurzelte. Ich porträtierte Katie fast bei jedem Besuch, um gegen alle Widerstände etwas Schönes zu schaffen – nicht um das Gesicht zu zeigen, das sie ihr Shrek-Gesicht nannte, sondern um die innere Schönheit ihres Herzens, ihrer Intelligenz und ihres Glaubens darzustellen. Ich möchte, dass man erkennt, dass wir mehr sind als unser Gesicht, und dass es tatsächlich stimmt, wenn unsere Mütter uns sagen, dass wir innerlich schön sind. Und dann, drei Jahre nach ihrem Versuch, ihr Leben zu beenden, erhielt Katie das Geschenk ihres Lebens, das Gesicht der 31-jährigen Adrea Schneider, die nach einer Überdosis ins Koma gefallen war, aus dem sie nicht mehr erwachen würde. In einer 31-stündigen Operation entfernten die Chirurgen Katies aus Bauch- und Beinhaut aufgebautes Gesicht und implantierten ihr die Muskeln, Nerven, Adern, Zähne und alles, was sonst noch Teil von Adreas Gesicht gewesen war. Es war ein unvergleichliches Geschenk, das Katies Leben veränderte und ihr eine zweite Chance gab.

Als ich diese Geschichte fotografierte, wiederholte sich vieles, aber es gab auch richtige Überraschungen. Während einer Porträtsession fingen Katie und ihr Vater plötzlich an, zusammen zu tanzen und zu singen. Es war ein seltener Moment der Freude. Bei dem oben erwähnten Ausflug nahm Katies Vater sie mit an einen kleinen See und ließ sie allein vor einer grünen Landschaft mit blühenden Bäumen. Es war eine der wenigen Gelegenheiten, in der Katie Zeit für sich selbst hatte. Sie lauschte dem Gesang der Vögel und spürte, wie eine sanfte Brise wehte und sie roch den Duft der Frühlingsblumen. Ein weiterer sehr emotionaler Höhepunkt war die Begegnung der Familie mit Sandra Bennington, der Großmutter von Adrea, die Katie das Gesicht ihrer Enkelin geschenkt hatte. Sandra kam herein, setzte sich neben Katie auf die Couch und legte ihr die Hand ans Kinn. Sie sah Katies Gesicht an, das einmal Adreas Gesicht gewesen war, und sagte ihr, dass sie schön sei. Sandra suchte nach Adreas Gesicht, aber sie fand nur noch einige Details, denn ein Gesicht, das transplantiert wurde, verändert sich. Es ist weder das Gesicht des Spenders noch das des Empfängers, sondern ein neues Gesicht, ein ganz eigenes Gesicht, und es ist das Gesicht, mit dem Katie den Rest ihres Lebens verbringen wird … solange ihr Körper es nicht abstößt. Das werden hoffentlich die Medikamente verhindern, die Katie zeitlebens einnehmen muss. Katies Familie und Sandra beteten gemeinsam und dankten Gott für Katies neues Leben.
Jetzt hat Katie ein neues Gesicht. Sie lernt von Grund auf, neu zu sprechen. Sie kann essen, ohne dass Essen aus den Mundwinkeln fällt. Sie kann ihre Lippen verziehen. Sie kann ihre Nase kräuseln. Sie kann kauen, weil sie Zähne und eine stärkere Zunge hat. Sie kann mit den Augen blinzeln, obwohl ihre Sehkraft noch minimal ist. Sie kann lächeln, lauthals lachen und sogar singen. Sie kann mit einem etwa gleichaltrigen Physiotherapeuten trainieren. Sie könnte sogar eine Brautjungfer bei der Hochzeit ihres Therapeuten sein. Und es wird sich durch immer kleinere Operationen, die das Gesicht und seine Fähigkeiten verfeinern, weiter verbessern. Für uns mögen das Kleinigkeiten sein, die wir einfach machen, aber für Katie und all die Menschen, die unter entstellten Gesichtern leiden, sind sie riesig.

Acht Monate, 23 Tage nach Katie’s Transplantation
Alesia und Robb waren entschlossen, Katie zu helfen, ein Leben so normal und wertvoll wie möglich zu führen, und haben deshalb ihr eigenes Leben für mehr als vier Jahre auf Eis gelegt. Fest in ihrem Glauben an Gott, halfen sie ihrer Tochter, die Erschöpfung zu überwinden, und begleiteten sie zu den endlosen Terminen und Therapiesitzungen. Sie suchen bereits nach Möglichkeiten, um das Katies Sehvermögen zu verbessern, gegebenenfalls auch durch eine Augentransplantation. Sie gehen davon aus, dass sie weiterhin in Cleveland in der Nähe der Klinik und von Katies Ärzten bleiben werden.

 

Katie wird für immer ein medizinisches Studienobjekt bleiben. Ihre Ärzte und alle anderen, die ihr neues Leben ermöglicht haben, werden sie weiterhin untersuchen und behandeln. Katies großer Fehler und ihre Aufopferung werden das medizinische Wissen über Gesichtstransplantationen entscheidend vorantreiben – davon werden Tausende Patienten mit schweren Verbrennungen und Verstümmelungen profitieren. Für die Mediziner ist Katie jemand, die zur selben Alterskohorte gehört wie viele Soldaten, die ähnliche Traumata erlitten haben. Aber Katie hat auch eine Mission, die darüber hinausgeht: junge Menschen davor zu warnen, das zu tun, was sie getan hat. Sie plant als Lehrerin und Mentorin an eine Schule zu gehen – auch für die junge Frau, die einst angestarrt wurde und hörte, wie die Leute hinter vorgehaltener Hand über ihr zusammengeflicktes Gesicht tuschelten, „um wieder ein Gesicht in der Menge zu werden, das niemand ansieht“.
Mir kommt in den Sinn, dass wir Fotografen unsere Protagonisten immer bitten, vor unserer Kamera verwundbar zu sein, und ich glaube, wir sollten auch verwundbar sein. Wenn wir Menschen aus dieser Nähe und so oft fotografieren, werden wir ein Teil ihres Lebens, so wie sie ein Teil unseres Lebens werden. Wir greifen ihre Stimmung auf, ihre Freuden und Sorgen, im Grunde genommen ihr ganzes Leben. Wir sollten sie respektieren und daran denken, dass es in der Geschichte nicht um uns geht, sondern um sie und dass wir das Privileg haben, in ein Leben einzutreten, das uns etwas lehren kann, und das Leben zu lieben – jeden Tag aufs Neue.

Den detaillierten Bericht finden Sie in THE STORY OF A FACE von Joanna Connors in der September 2018 Ausgabe des National Geographic Magazine und online unter: https://www.nationalgeographic.com/

Maggie Steber ist eine gefeierte Dokumentarfotografin, die für ihre humanistischen Geschichten über Menschen und Kulturen in Krisen in 63 Ländern mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Neben vielen anderen Themen hat sie ein bedeutendes Werk über Haiti herausgebracht, darunter ein Buch mit dem Titel „DANCING ON FIRE: Photographs from Haiti“. Steber war vier Jahre lang Direktor of Photography beim The Miami Herald, war Richterin in vielen Grant- und Award-Panels und wurde international in Einzel- und Gruppenausstellungen ausgestellt. Als geschätzte Meisterlehrerin hat sie international unterrichtet, darunter drei Jahre bei den World Press Photo Joop Swart Master Classes in Amsterdam, drei Jahre bei den Foundry Photojournalism Workshops, beim LOOK3 Photo Festival, beim Bursa Photo Festival in der Türkei und bei verschiedenen Workshops in den USA. Ihre Fotografien befinden sich in der Sammlung der Library of Congress, sowie in vielen anderen privaten und öffentlichen Sammlungen. Zu ihren erstklassigen Kunden gehören das National Geographic Magazine, die New York Times, Smithsonian und The New Yorker.