Den Satz, dass sich alles ändert, wenn man Kinder hat, hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Bis zu einem gewissen Grad stimmt er auch, aber oft schwingt eine negative Konnotation mit, die nicht den häufig positiven Charakter dieser Veränderungen widerspiegelt. Die Zeit scheint sich zu beschleunigen, vielleicht eine Folge der vielen hochemotionaler Erfahrungen, die die rasante Entwicklung eines Kleinkinds begleiten. Das erste Geräusch, das erste Lächeln, die ersten Schritte, die ersten Worte. Die Häufigkeit dieser Momente lässt wenig Zeit, über jedes einzelne Ereignis nachzudenken. Oft wirken sie wie ein rasantes Jazz-Solo, bei dem man die Pausen zwischen den einzelnen Noten nicht mehr wahrnimmt. Zwischen dem Familienleben mit seiner Frau und den drei Töchtern sieht Shin Noguchi tatsächlich Parallelen zum Jazz und zitiert Eric Dolphy: „Wenn die Musik verklungen ist, ist sie weg. Man kann sie nie wieder einfangen.“

Es gibt kein Zurück. Keine Möglichkeit, das besondere Gefühl eines bestimmten Moments noch einmal zu erleben. Für Noguchi hat Familienfotografie dennoch das Potenzial, diese Momente zu bewahren. Mit dem Leica M-System fotografiert der renommierte Street Photographer seine Familie ähnlich wie außergewöhnliche Momente auf der Straße. Wir sprachen mit Noguchi über sein laufendes Projekt „One Two Three“, das eine überfällige Neubewertung der Familienfotografie nahelegt.

Yumeji, Pacific Island Club Guam, Tumon, Guam, August 2011

 

Wann haben Sie zum ersten Mal daran gedacht, Ihre intimen Familienfotos in einem Projekt zusammenzuführen? Was hat Sie inspiriert?

Nach dem Tod meines Vaters, der 2017 an Lungenkrebs im Stadium IV verstarb, versuchte ich seinen Nachlass im Haus meiner Eltern zu ordnen. Bei dieser Gelegenheit stieß ich auch auf viele Bilder aus meiner Kindheit, die meine Mutter aufgenommen hatte. Die meisten hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich habe die Bilder in ein laufendes Projekt integriert, als eine Art Ausgangspunkt. Ich möchte meiner Mutter, die jetzt allein in meinem Elternhaus lebt, die Aufnahmen meiner Familie zeigen. Vor allem versuche ich, durch diese Fotografien die Kommunikation mit meinen Töchtern zu verbessern und gleichzeitig ihr Selbstwertgefühl zu steigern.

Bilder aus Shin Noguchis Kindheit, aus dem Archiv seiner Mutter.

Sie sind für Ihre Street Photography bekannt. Worin ähnelt dieses spezielle Projekt Ihrer Arbeit auf der Straße und wodurch unterscheidet es sich?

Ich verstehe mich als Street- und Dokumentarfotograf. Ich versuche, ungekünstelte, nicht inszenierte Momente aus dem Alltag meiner Mitmenschen festzuhalten. Das ist auch der Kern dieses Projekts. Dafür fotografiere ich aber nicht sonderlich viel, weil ich lieber die Zeit mit meiner Familie genieße. Ich denke, das sieht man den Bildern auch an. Der größte Unterschied zwischen meiner Street Photography und diesem Projekt besteht darin, dass ich auf der Straße noch nie so skurrile, ausgefallene Motive eingefangen habe.

Oft gelten Familienfotos als „irrelevant“ oder werden einfach als nostalgisches Vehikel der Erinnerung an die Vergangenheit abgetan. Wie relevant ist Ihrer Meinung nach diese Serie für den Betrachter, abgesehen vom persönlichen Wert der Bilder, der offensichtlich ist?

Ich genieße diese Momente in meinem Familienleben genauso wie die Momente, die ich auf der Straße festhalte. Ich möchte, dass der Betrachter Freude an diesen schönen, alltäglichen Momenten empfindet und sie nicht nur als Aufzeichnung des Privatlebens einer fremden Familie sieht. Aber was ich auch sage, die Veröffentlichung dieses Projekts im Kontext dokumentarischer Fotografie ist doch die größte Herausforderung. Es besteht definitiv die Gefahr, dass der Betrachter die Serie missversteht, denn auf den ersten Blick mag sie profan erscheinen. Schließlich handelt es sich bei den vorgestellten Motiven um meine eigene Familie, die immer und überall fotografiert werden könnte und die ich jederzeit bitten könnte, für ein Foto zu posieren.

Der wichtigste Grund, warum ich mich auf diese Weise auf meine Familie konzentriert habe, ist jedoch unsere gegenseitige Vertrautheit. In gewisser Weise erleichtert sie die Aufnahme dieser Motive. Ich möchte, dass der Betrachter spürt, was ich über das Fotografieren eines Menschen denke, egal ob es sich um eine Person handelt, die ich genau kenne oder um einen Fremden: „Die außergewöhnlichsten Momente gibt es in deinem täglichen Leben. Die Frage ist, ob man sie finden oder sehen kann.“

Die Intimität Ihrer persönlichen Projekte ist eine ihrer großen Stärken. Zucken Sie manchmal zurück, wenn Sie den Auslöser drücken wollen? Wo sehen Sie die Trennlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen?

Das ist meine Familie. Ich kann alles sehen, was sie mir zeigen, und ich kann ein Foto von allem machen. Jeden Tag, jede Stunde und jede Sekunde – es gibt keine klare Trennlinie. Wenn ich das Gefühl habe, dass sie mir diesen schönen Moment geschenkt haben, drücke ich einfach auf den Auslöser. Es ist das gleiche Gefühl, das meinen Körper instinktiv in Bewegung versetzt, wenn ich Jazz höre. Ich kann nicht klar sagen, was es ist, aber ich wäre glücklich, wenn wir das gleiche Gefühl teilten.

Yumeji und Kotoyo, Omachi, Kamakura, September 2016

Diese Bilder bieten einen sehr unterhaltsamen Blick auf das Familienleben. Spiegeln sie auch angemessen wider, wie Sie Elternschaft erlebt haben? Wie haben Ihre Kinder Ihren Blick auf die Fotografie beeinflusst?

Diese Bilder zeigen nur ein paar Momente aus unserem Familienleben. Meine Frau lebt dieses Leben 24 Stunden am Tag, aber ich bin freiberuflicher Fotograf und kann deshalb nicht so viel Zeit mit meiner Familie verbringen. Unabhängig davon kann man sagen, dass diese Momente wie die Höhepunkte eines Jazzkonzerts sind. Ich poste auf Instagram Geschichten aus meinem Alltag mit der Familie und hoffe, dass diese Bilder Momente eines normalen Familienlebens repräsentieren. Um Ihre Frage zu beantworten, wie sich Kinder auf meine Einstellung zur Fotografie ausgewirkt haben: Ich kann nirgendwo mehr hingehen, ohne eine Kamera bei mir zu haben. Ich möchte nichts verpassen, auch wenn ich ins Bad oder ins Bett gehe.

Mit welcher Kamera haben Sie die Serie aufgenommen?

Mit einer Leica M6 und einer M9-P. Soviel ich weiß, gibt es eine Kamera, die automatisch ein Bild aufnimmt, wenn der Protagonist lächelt. Diese beiden Leicas scheinen dagegen einen automatischen Auslöser zu haben, wenn die Gefühle des Fotografen gerade ihren Höhepunkt erreichen. Gibt es bessere Kamera als diese beiden? Ich schätze sie auch deshalb, weil sie vollständig manuell bedient werden können und ich diese Momente aufnehmen kann, ohne dass die Intimität leidet, die ich mit meiner Familie empfinde. Das ist der Grund warum ich diese Kameras und ein 35-mm-Objektiv brauche.

Wie entwickelt sich das Projekt? Ist ein Ende in Sicht?

Ich kann nicht in die Zukunft blicken, aber ich möchte aus dieser Serie ein Fotobuch machen. Ein paar Verlage haben schon Kontakt mit mir aufgenommen, aber ich würde mich freuen, noch von anderen zu hören. Um es kurz zu machen: Ich hoffe, dass ich das Lächeln meiner süßen Töchter bis in alle Ewigkeit aufnehmen kann. Aber vielleicht muss ich aufhören, wenn sie heiraten und das Haus verlassen? Aber, nein, darüber will ich jetzt nicht nachdenken!

Wie reagieren Ihre Frau und die Töchter auf Ihre Aufnahmen?

Sie lachen oft und wir sprechen darüber, was in diesen Momenten geschehen ist. Das ist sehr wichtig für das Zusammenleben einer Familie.

Woran arbeiten Sie sonst derzeit? Auf was können wir uns in naher Zukunft freuen?

Ich bin immer noch dabei, den Nachlass meines Vaters zu ordnen. Ein Teil dieser Arbeit besteht aus dem Scannen und Katalogisieren alter Bilder, die meine Eltern aufgenommen haben. Ich möchte diese Bilder meinen Töchtern zeigen und auch mit anderen teilen. Mein Ziel besteht darin, zu zeigen, dass es Dinge gibt, die sich nie ändern, Dinge, die universell sind, in unserem Kopf, jederzeit und in jedem Alter. Darüber hinaus fotografiere ich derzeit Fremde auf der Straße. Das Projekt trägt den Titel „Something Here“ und erscheint fortlaufend in wichtigen Medien.

Welchen Ratschlag geben Sie jemandem, der seine fotografischen Fertigkeiten verbessern möchte?

Kurz bevor Sie den Auslöser drücken, sollten Sie sich in diesem speziellen Moment wiedererkennen können. Das ist das Wichtigste bei der Aufnahme eines Fotos. Es spiegelt die Funktionsweise Ihres Verstandes wider, die durch Ihre Erfahrungen und Gedanken geprägt ist. Das sollten Sie mit dem Auslöser Ihrer Kamera zu verbinden trachten. Dann wird jede Aufnahme mit Ihren Gedanken zu diesem Bild durchdrungen. Der Betrachter wird es sicher genießen, mit Ihnen über dieses Bild zu kommunizieren.

 

Auf Instagram erfahren Sie mehr über Shin Noguchis Street Photography. Auf seiner Website, sehen Sie weitere Bilder aus seinen persönlichen Projekten.

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

Jetzt M-System online entdecken!