Anlässlich der 25-jährigen Städtepartnerschaft von Tokio und Berlin hat Kiên Hoàng Lê für ein Ausstellungsprojekt im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin die deutsche Hauptstadt fotografiert. Seine Aufnahmen aus dem Stadtbezirk Lichtenberg – Porträts, Landschaften und Stillleben – zeigen die Metropole im Großen wie im Kleinen.

Unter dem Aspekt Fotografie betrachtet ist Berlin bereits sehr präsent. Was hat trotzdem Ihr Interesse an diesem Projekt geweckt?

Eine Stadt zeichnet sich durch den Raum aus, den sie ihren Bewohnern und Gästen gibt. Als die Anfrage für die Ausstellung kam, etwas über Berlin zu erzählen, war mir sofort klar, dass ich mein Projekt der vietnamesischen Community widmen wollte. Für mich war es wichtig, einen Teil Berlins zu zeigen, der im Bewusstsein der Menschen kaum existiert. Ich entschied mich für den Stadtbezirk Lichtenberg, den ich mir von meinen Protagonisten zeigen lassen wollte. Die Menschen machen für mich die persönliche Erfahrung einer Stadt aus.

Sie sind in Vietnam geboren und am Bogensee in der DDR aufgewachsen. Verfügen Sie noch über einen Blick „von außen“ oder beobachten Sie die Stadt als Einheimischer?

In meinem Alltag habe ich den Blick von außen nicht mehr. Durch die fotografische und filmische Auseinandersetzung mit Berlin-Lichtenberg lernte ich den Bezirk aber durch die Augen meiner Protagonisten neu kennen.

Ihre Bilder zeigen Menschen, Natur und Gebäude. Ist es das, was eine Stadt ausmacht?

Stadt ist als Lebensraum charakterisiert, den der Mensch sich erschaffen hat. Darin begrenzt er die Natur so, wie er es braucht. Fotografisch zeige ich ja immer nur einen minimalen Ausschnitt. Deshalb kombiniere ich gerne Porträts, Landschaften und Stillleben. Gemeinsam ergeben sie die Puzzleteile, die sich der Betrachter selbst zusammenfügen kann. Mit jeder neuen Erfahrung, jedem neuen Kennenlernen und mit jedem neuen Gedanken entsteht ein neues Bild von Berlin-Lichtenberg – und damit auch ein neues Bild von Berlin. Am Ende hat der Betrachter ein sich immer veränderndes Puzzle im Kopf.

In der Ausstellung hängen Aufnahmen aus Berlin direkt neben Fotografien aus Tokio. Sie selbst haben längere Zeit in Japan gelebt. Was haben die beiden Städte gemeinsam?

Es ist ganz interessant, dass ich Berlin durch meinen Aufenthalt in Tokio anders sehen gelernt habe. Tokio war in meinem Kopf als Hochtechnologiemetropole verankert. Als ich jedoch vor Ort war, fand ich mich in ganz vielen kleinen Dörfern wieder; sobald ich nur zwei Querstraßen weiter ging, war ich schon im nächsten. Als ich nach Berlin zurückkehrte, habe ich das hier auch wahrgenommen: Die Stadt ist aus verschiedenen Dörfern gewachsen. Und ganz selten verlassen die Bewohner ihren Kiez.

Ihre Bilder zeigen ein anderes, nicht gerade trendiges Berlin, das manchmal trostlos wirkt …

Berlin ist weitgehend rau und nicht sonderlich hip. Ich empfinde es aber nicht als trostlos. Plattenbausiedlungen sind ein Phänomen der 60er-Jahre, einer Zeit, in der Wohnraum sehr knapp war. Große Flächen und Orte geben Platz für Entwicklungen, Abriss und Kernsanierung bedeuten eher Aufbruch. Sie sind für mich das Symbol einer positiven Veränderung. Alte Strukturen werden transformiert und die Menschen erschaffen sich neue Räume.

Hatte es für Ihre Arbeit eine Bedeutung, dass Sie in der DDR aufgewachsen sind?

Meine Biografie spiegelt sich natürlich in meinen Arbeiten wider. Durch sie bin ich überhaupt erst darauf gekommen, mich mit der vietnamesischen Diaspora und im nächsten Schritt mit der Veränderung Lichtenbergs zu beschäftigen. Lichtenberg ist ein sehr geschichtsträchtiger Ort. Vor der Wende war der Bezirk der Sitz der Stasi und quasi eine „gated community“. Im Volksmund nannte man den Bezirk auch „Mielkes Dorf“. Ich bin nur hier, weil es eine Beziehung zwischen Nordvietnam und der DDR gab.

Sie haben die Serie mit einer Leica S2 aufgenommen. Mit welchen Erfahrungen?

Die Leica S2 ist für eine Mittelformatkamera recht handlich. Ich wollte nicht viel schleppen, mich auf die Menschen konzentrieren und spontan reagieren können. Also bin ich nur mit der Leica S2 und dem Summarit-S 1:2.5/70 ASPH. durch den Kiez gelaufen. Das Objektiv war ein Traum. Es half mir, die Menschen in ihrem Raum zu zeigen, sie gleichzeitig aber vom Hintergrund zu lösen. Ich habe auch Interviews mit der Leica SL gefilmt. Das Handling ist sehr intuitiv und der Autofokus während des Filmens unverzichtbar.

Gab es eine bestimmte fotografische Herangehensweise?

Ich versuche nur so viel Technik wie nötig zu nutzen. Je nach Erzählform kann das eine Kamera mit Festbrennweite sein oder ein komplettes mobiles Studio. Im Falle meines Lichtenberg-Projekts war es eben eine Leica S2 mit dem 70-mm-Objektiv und eine Leica SL mit dem Vario-Elmarit-SL 1:2.8–4/24–90 ASPH. zum Filmen der Interviews. Dabei habe ich zusätzlich ein Filmlicht, externe Mikro-fone und Recorder eingesetzt.

Ihre Serie ist in Farbe fotografiert, dennoch wirken Ihre Aufnahmen nicht bunt, sondern eher gedeckt. War das Absicht?

Im Laufe des Projekts hat sich mir Berlin von einer überaus warmen und sonnigen Seite gezeigt. Mir ging es darum, dass die Ästhetik der Bilder diese schöne warme Stimmung widerspiegelt.

Die Ausstellung im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin ist noch bis zum 28. Juni 2019 zu sehen. Dort sind neben Kiên Hoàng Lês Bildern auch Werke von Kojima Yasutaka, Tsuchida Hiromi, Ohnishi Mitsugu, Herbie Yamaguchi und Günter Zorn ausgestellt.

Kiên Hoàng Lê wurde 1982 in Hanoi, Vietnam, geboren und ist am Bogensee in der DDR aufgewachsen. Er hat in Großbritannien, Indien, Japan und Australien gelebt. In Hannover studierte er Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Seit 2009 kreiert er Reportagen und Porträts für Redaktionen, Unternehmen und NGO-Kunden. Kiên lebt und arbeitet in Berlin und Frankfurt.

Wenn Sie mehr Fotografien von Kiên Hoàng Lê sehen möchten, besuchen Sie seine Website.

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