In der Fremde zu Hause: Für ihr Langzeitprojekt fotografierte Sayuri Ichida die japanische Ballerina Mayu vom New York Theatre Ballet. Wir sprachen mit der japanischen Fotografin, die ebenfalls in New York lebt, über das Konzept „Zuhause“, die Schönheit des Tanzes und die Welt als Bühne.

Für eine professionelle Balletttänzerin ist es sicherlich sehr merkwürdig, nicht auf einer Bühne aufzutreten. Wie hat sie reagiert, als Sie ihr vorschlugen, an diesem ungewöhnlichen Projekt teilzunehmen?

Sie mochte die Idee sofort!

Wie hat Mayu diese besonderen Orte aufgenommen?

Obwohl uns oft Passanten angestarrt haben, blieb Mayu vollkommen unerschrocken und hochprofessionell. Sie schien die Menschen um uns herum gar nicht wahrzunehmen. Ich glaube, sobald Mayu anfängt zu tanzen, wird für sie jede Umgebung zur Bühne.

Wie haben die Passanten reagiert?

Einige haben versucht, heimlich mit ihren Smartphones zu fotografieren, andere haben um Erlaubnis gefragt. Manche Autos, die vorbeifuhren, haben abgebremst.

Wie sind Sie auf die Locations gekommen?

Wenn ich Zeit habe, erkunde ich mit meiner Kamera oft ganz gezielt Orte, die ich mir vorher herausgesucht habe. Für diese Serie habe ich allerdings nicht speziell recherchiert, sondern habe mich an bestimmte Orte erinnert. Ich stelle das, was ich fotografiere, gern ins Zentrum des Bildes – das kann man ganz gut auf meinen Landschaftsaufnahmen sehen. So bin ich auch an dieses Projekt herangegangen.

Und haben mit Mayu eine Ballerina ins Zentrum Ihrer Aufnahmen gestellt …

All ihre tänzerischen Bewegungen sind wunderschön, aber für diese Aufnahmen habe ich Mayu gebeten, es nicht allzu schön aussehen zu lassen.

Mit dieser Serie, so beschreiben Sie es auf Ihrer Website, wollten Sie als Japanerin, die in New York lebt, Ihre eigenen, teils heftigen Erfahrungen, Ihr Gefühl des Fremdseins darstellen. Und damit auch von Ihren Selbstzweifeln, Ihrer Bedrückung und der reuevollen Stimmung erzählen, in die sie manchmal verfielen. Konnten Sie diese Gefühle durch das Projekt überwinden?

Als ich Mayu kennenlernte, hatte ich die schwierigste Zeit als Immigrantin, das erste Zurechtfinden in der Fremde, bereits überwunden. Ich glaube, dass es Mayu genauso erging. Hätte ich zu der Zeit noch mit diesen Gefühlen gehadert, hätte ich das Projekt nicht realisiert – weil ich sie dann nicht hätte preisgeben wollen. Für uns beide war es aber dennoch eine Art Meilenstein, in vielerlei Hinsicht. Die wunderbare Zusammenarbeit mit einer anderen Künstlerin hat mir außerdem erneut klar gemacht, wie frei und unabhängig wir sind.

Was bedeutetet „Zuhause“ für Sie? Ist Ihnen New York mittlerweile eine Art Heimat geworden?

Eine Stadt wie New York Heimat zu nennen, ist schwierig. Die Stadt ist immer voller Energie und verändert sich ständig. Ich habe Familie und gute Freunde hier und langsam fange ich auch an, mich hier mehr und mehr zu Hause zu fühlen. Aber wann diese Stadt zu meiner richtigen Heimat wird, lässt sich schwer sagen.

Wie wichtig war der Umstand, dass Sie und Mayu Einwanderinnen sind?

Wir sind nicht nur beide aus Japan in die USA immigriert, sondern wir sind auch beide Künstlerinnen. Das war für mich ein weiteres, sehr wichtiges Kriterium bei dieser Serie.

Können Sie sich vorstellen, ein derartiges Projekt auch mit einer amerikanischen Tänzerin umzusetzen?

Ja, gut sogar, aber dann würde ich eine ganz andere Bildsprache wählen. In der „Mayu“-Serie fotografiere ich absichtlich nie ihr Gesicht, eben um ihre Gefühle als Fremde, als Einwanderin zu verdeutlichen. Bei einer Serie über eine amerikanische Tänzerin würde ich vermutlich eine offenere, direktere Bildsprache wählen, die Tänzerin offensiver in Szene setzen und sie damit näher an den Betrachter heranrücken. Zumindest nehme ich das im Moment an, aber letztlich kommt es natürlich auf die individuelle Persönlichkeit an.

Sie arbeiten mit einer Leica M6 …

Bevor ich mit einer Leica gearbeitet habe, habe ich mir nie groß Gedanken über meine Kameras gemacht. Sie waren für mich einfach das Mittel zum Zweck und so lange das funktioniert hat, war ich zufrieden. Vor ungefähr fünf Jahren war ich in New York in einer Ausstellung. Dort wurden in einem Nebenraum einige Leica Kameras präsentiert. Ihr Design hat mich sofort begeistert und nachdem ich ein bisschen geforscht hatte, habe ich mir eine Leica gekauft.

Welche Erfahrungen haben sie mit der Kamera gemacht und welche Objektive haben Sie bei dieser Serie eingesetzt?

Ich fotografiere unglaublich gerne mit der M6. Mittlerweile nehme ich sie immer mit, wenn ich losziehe und auch wenn ich an bestimmten Serien arbeite. Mit dieser Kamera entstehen genau die Aufnahmen, die ich mir vorgestellt habe. Für die „Mayu“-Serie habe ich das Leica Summicron-M 1:2/50 verwendet.

Was sind Ihre nächsten Projekte?

Ich widme mich derzeit vor allem dem Fotografieren von Menschen. Entsprechend arbeite ich gerade an einigen Porträtserien.

Sayuri Ichida wurde 1985 in Fukuoka, Japan, geboren. Nach ihrem Studium am Tokyo Visual Arts College im Jahr 2006 arbeitete sie drei Jahre lang als Assistentin im Fotostudio bei Iino Media Pro in Tokio. Sie zog 2009 nach London, wo sie als Modefotografin arbeitete, und dann 2012 nach New York, wo sie als Bildbearbeiterin in der Modebranche tätig war. Seit 2014 widmet sie sich mehr und mehr eigenen fotografischen Projekten. Für ihre Serie Deja Vu, die von der Erinnerung an das Puppenhaus ihrer Kindheit inspiriert ist, erhielt sie 2016 den Japan Photo Award. Im Jahr 2018 war sie mit ihrer Serie Mayu unter den Gewinnern der Fotofilmic 18 Shortlist Show in Kanada.

Wenn Sie mehr Fotografie von Sayuri Ichida sehen möchten, besuchen Sie ihre Website.