Der britische Magnum-Fotograf Ian Berry, geboren 1934, zählt zu den wichtigsten Vertretern einer humanistischen Fotografie. Erste Aufmerksamkeit erzielten seine Aufnahmen aus Südafrika, dorthin war er 1952 ausgewandert und veröffentlichte seine Arbeiten als engagierter Bildjournalist in verschiedenen Tageszeitungen und Zeitschriften, darunter auch das renommierte Magazin „Drum“. Gleichzeitig entstanden erste freie Arbeiten. 1962 verließ er Südafrika, zog nach Paris und wurde von Henri Cartier-Bresson eingeladen, sich der Agentur Magnum anzuschließen. Seit 1967 ist er Vollmitglied der Agentur. 1964 erfolgte der Umzug nach London, hier wurde er erster Vertragsfotograf für das „Observer Magazine“. In dieser Zeit begann auch die intensive fotografische Auseinandersetzung mit seinem Heimatland, als Ergebnis veröffentlichte er 1978 den Bildband The English. Wir sprachen mit Berry über diese berühmte Serie.

Ihr Buch The English erschien erstmals im Jahr 1978. Wie hat das Projekt seinen Anfang genommen?

Ich hatte über zehn Jahre im Ausland gelebt und ich hielt es nach meiner Rückkehr für eine gute Idee, meine Landsleute mit einem frischen Blick zu betrachten. Ich hatte das Glück, das erste Arts-Council-Stipendium für Fotografie zu erhalten, und wurde gleichzeitig gebeten, einen Stadtteil von London, Whitechapel, für die Whitechapel Galerie zu fotografieren. Dort hatte noch nie eine Fotoausstellung stattgefunden; die Galerie wollte mit meinen Aufnahmen die Bewohner des Viertels ansprechen, nicht nur die übliche Kundschaft aus West-London.

Wie denken Sie heute über die Serie – 40 Jahre danach?

Das Stipendium und das Honorar der Galerie ermöglichten es mir, ein Vierteljahr zu fotografieren. Natürlich hat sich das Land seitdem enorm verändert und, aus der Sicht eines Fotografen, nicht immer zum Besseren: Während der Arbeiten für The English kann ich mich nicht an ein aggressives Wort oder eine übergriffige Handlung erinnern. Leider haben die Menschen jetzt eine viel entschiedenere Anti-Haltung gegenüber Fotografen entwickelt, vielleicht weil Großbritannien zu einer der am meisten überwachten Nationen in der westlichen Welt geworden ist.

Wenn man sich diese Serie noch einmal ansieht, was fällt aus der zeitlichen Distanz besonders auf?

Wo ich mich auch befinde, gilt mein größtes Interesse immer den Menschen und wie sie aufeinander und ihre Umwelt reagieren. Daher habe ich mich für eine leise Kamera und ein Weitwinkelobjektiv entschieden – das zwingt mich ganz nah heranzugehen.

Wie haben Sie die Serie damals vorbereitet, was hat Sie am meisten interessiert?

Meine Vorbereitung auf das Projekt war einfach: Ich wollte geografisch betrachtet so viel wie möglich abdecken, aber, noch wichtiger, auch sozial. Bekanntlich ist England nicht gerade eine klassenlose Gesellschaft.

Was halten Sie von den aktuellen politischen Veränderungen in Ihrem Land?

Das Land hat sich politisch auf dramatische Weise verändert, wobei keine der beiden großen Parteien ihre Anhänger in ihren angestammten Wählerschichten gewann, sondern wegen ihrer jeweilihen Haltung gegenüber der Europäischen Union. Ich bin kein sonderlich politischer Mensch. Ein Leben lang haben mich meine Reisen in alle Welt Toleranz gegenüber anderen Meinungen gelehrt, aber ich lehne alles ab, was meine Reisefreiheit als Fotograf einschränkt.

Was für fotografische Themen interessieren Sie im Moment?

Ich verwende noch viel Zeit auf die Fotografie und habe immer einige persönliche Projekte, an denen ich arbeite. Natürlich erfordern meine Projekte auch weite Reisen, aber da die finanzielle Unterstützung durch Zeitungen und Zeitschriften fehlt, hält sich das in Grenzen.

Was hat sich in den letzten Jahren im Fotojournalismus verändert?

Wie gesagt, es gibt weniger Zeitungen und Zeitschriften und es fehlt auch an anderen Formen öffentlicher Unterstützung. Das schränkt gerade die Möglichkeiten junger, aufstrebender Dokumentarfotografen oder Fotojournalisten ein. Das betrifft auch Agenturen wie Magnum Photos, die sich von den Ambitionen und Wünschen der Gründer weit entfernt haben. Ich hatte das Glück, die Blütezeit der Zeitschriftenfotografie erlebt zu haben, denn heute, wie heißt es so schön: „Wir leben in interessanten Zeiten.“

In Preston, Lancashire, am 4. April 1934 geboren, zog Ian Berry 1952 nach Südafrika, dort war er von 1956–58 für die „Daily Mail“ in Johannesburg und ab 1959 für das das Magazin „Drum“ tätig. 1962 kehrte er nach Europa zurück, in Paris hatte er Kontakt zu Henri Cartier-Bresson und wurde 1963 außerordentliches Mitglied der Agentur Magnum Photos, ab 1967 war er Vollmitglied. 1964 zog er nach London, dort wurde er der erste feste Fotograf beim „Observer Magazine“. Weltweite Aufträge führten ihn unter anderem in die Tschechoslowakei, den Kongo, nach Israel, Irland, Vietnam, China und immer wieder nach Südafrika. Berry veröffentlichte in allen großen internationalen Magazinen. Viele Jahre nutzte er ausschließlich Leica Kameras. 2012 ehrte ihn Leica mit einer schwarzlackierten, persönlich gewidmeten Leica M9-P. Berry lebt in Salisbury in Südengland. Wenn Sie mehr von Ian Berrys Fotografie sehen möchten, besuchen Sie seine Website.

Die Ausstellung, The Englishist vom 6. September bis zum 23. November in der Leica Galerie Wien zu sehen.