Aus diesem Anlass erschien das Fotobuch Einblicke weltweit – 100 Jahre Waldorfpädagogik mit Arbeiten bekannter Leica Fotografen. Unsere Gesprächspartner Emile Ducke und César Rodríguez haben Waldorfschulen in Russland und Mexiko besucht. Beide hielten die Besonderheiten des Orts und dessen Verbindung zur Waldorfpädagogik fest.

100 Jahre Waldorfschule – ist das eigentlich auch für Sie ein Grund zum Feiern?

Emile Ducke: Ich hatte bisher gar keinen richtigen Kontakt zu diesem Schulsystem, da ich auf ein staatliches Gymnasium in München gegangen bin. Umso mehr habe ich mich gefreut, für das Projekt selbst mal einen Tag in einer Waldorfschule verbringen und so das Schulsystem näher kennenlernen zu können.

César Rodríguez: Auch mir war das System bisher kaum vertraut. Ich wusste also überhaupt nicht, was mich beim Fotografieren erwartet.

Inwieweit ist der Name Rudolf Steiner in Russland und Mexiko überhaupt ein Begriff?

Emile Ducke: Die erste Waldorfschule in Russland wurde erst nach dem Zerfall der Sowjetunion, Anfang der 1990er-Jahre, eröffnet. Bisher heute gibt es nur wenige, aber immerhin auch eine in Irkutsk, einer der größten Städte in Sibirien.

César Rodríguez: Ehrlich gesagt, den Namen Rudolf Steiner hatte ich in Mexiko bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört …

Nach Ihrer Recherche und den entstandenen Bildern – was ist für Sie das Besondere an der Waldorfpädagogik?

Emile Ducke: Als erstes fiel mir die Ruhe auf. Das Gelände der Waldorfschule Soglasie liegt am Ufer eines Teichs und ist von Bäumen umgeben, ganz in der Nähe beginnt ein Wald. Der ganze Moskauer Großstadtlärm verstummt dort auf einmal. Mich hat beeindruckt, wie die Schüler aller Altersstufen sowohl von den Lehrern individuell ernst genommen werden als auch untereinander respektvoll miteinander umgehen. Sie strahlten ein angenehmes Selbstvertrauen aus.

César Rodríguez: Meine Beobachtung war, dass die Aufmerksamkeit der Schule auf dem kreativen und sozialen Bereich liegt. In den ersten Schuljahren gibt es viele Spiele, künstlerische und musikalische Aktivitäten. Ich glaube, dass dieser Zugang die Vorstellungskraft der Schüler beflügeln kann.

Unterscheidet sich die Waldorfpädagogik in Russland und Mexiko von der in anderen Ländern? Wer nimmt daran teil und wer kann es sich leisten?

Emile Ducke: Mir fehlt hier leider der Vergleich zu anderen Ländern. Die Finanzierung der Ausbildung ihrer Kinder in einer Privatschule mit Kosten von mehreren hundert Euro im Monat können allerdings in Russland nur wenige Eltern aufbringen.

César Rodríguez: Die Lehrer in Mexiko-Stadt sagten mir, dass jede Schule ein bisschen anders sei, weil sie die Freiheit hat, sich an ihre Region anzupassen. Ich glaube aber, dass der Kern der Waldorfpädagogik überall derselbe ist.

Wie haben Sie sich dem Projekt, den Schülerinnen und Schülern genähert?

Emile Ducke: Ich habe mich für einen Tag durch den Unterricht leiten lassen. Den Morgen begann ich in den Kindergartengruppen und anschließend lief ich von Klassenzimmer zu Klassenzimmer. Ich habe dem Unterricht gelauscht, saß in der Pause beim Mittagessen mit am Tisch und bin beim Waldausflug mitgelaufen.

César Rodríguez: Ich war nur für einen Nachmittag in der Schule. An dem Tag wurde gerade ein Fest gefeiert, es war also kein normaler Schulalltag. Trotzdem konnte ich in den Klassenräumen, auf den Spielplätzen und in der ganzen Schule sehen, wie sehr sie sich von anderen mexikanischen Schulen unterscheidet. Es existieren dort viel mehr Dinge, mit denen man etwas machen kann, Malerei und andere Kunst hängen an den Wänden, überall gibt es Zugang zu Musikinstrumenten. Das Interieur versprüht die Aura einer freien Schule. Es fühlt sich an, als könne man dort als Schüler viele Sachen ausprobieren.

Welche Kamera haben Sie für das Projekt verwendet?

Emile Ducke: Ich habe das Projekt mit einer Leica M10 fotografiert. Die Kamera ist klein und unauffällig und stand mir deshalb beim Kontakt mit den Schülern nicht im Weg.

César Rodríguez: Mir hat die LFI eine Leica M (Typ 240) geliehen. Die Kamera war, wie die meisten Leica Kameras, diskret und leise. Das ist gut, denn wenn man mit Kindern zusammen ist und sie entdecken, dass man sie fotografiert, sind sie die ganze Zeit nur darauf konzentriert. So aber haben sie die Kamera kaum bemerkt.

Waldorf – das bedeutet „Erziehung zur Freiheit“. Entspricht das Ihrem Empfinden nach dem Besuch?

Emile Ducke: Mein Eindruck war auf jeden Fall, dass die Schüler den Raum und die Unterstützung bekommen, sich frei zu entfalten und eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.

César Rodríguez: Ja, das ist genau das, was ich auch gefühlt habe.

Hat sich bei Ihnen durch die Serie der Blick auf Schule oder Schulsysteme verändert?

Emile Ducke: Am Ende des Tages war ich traurig, dass mein Aufenthalt an der Waldorfschule so schnell zu Ende ging. Ich wäre gern länger dortgeblieben.

 

Der Dokumentarfotograf Emile Ducke aus München lebt derzeit in Moskau. Seine Fotoessays erschienen in Publikationen wie der „Washington Post“, „Newsweek“, „L’Obs“, „De Volkskrant“ und „National Geographic“. Weiterhin war er für Outlets der „New York Times“, des „Spiegel“ und des „ZEITmagazin“ tätig. Im Jahr 2018 erhielt er den n-ost-Preis für die Berichterstattung über Osteuropa in der Kategorie Fotografie.

César Rodríguez studierte Fotografie in Mexiko-Stadt und absolvierte Workshops bei Mary Ellen Mark, Jaime Permuth, Andrew Lichtenstein und Maggie Steber. Er arbeitete u.a. für den „Spiegel“, die „New York Times“, „Le Monde“, die „Huffington Post“, den „Guardian“ und die „LA Times“; Ausstellungen seiner Arbeiten fanden u.a. in Berlin, London, Bogotá, Buenos Aires, New York, New Orleans, Kalifornien, China und Sydney statt. 2018 gewann er den Lumix Festival Award für jungen Fotojournalismus.

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

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Einblicke weltweit – 100 Jahre Waldorfpädagogik
Insights Worldwide – 100 Years of Steiner Education
Herausgegeben von Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners in Kooperation mit der Leica Camera AG und Familie Kaufmann
Texte von Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, gestaltet von Detlev Pusch
Hardcover, 176 Seiten, 111 Farb- und 31 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 21 x 28 cm, deutsch/englisch
39,90 Euro, ISBN 978-3-86828-920-6