Sie gehört zu den renommiertesten deutschen Fotografinnen; mit ihrem vielschichtigen Lebenswerk hat sie eine ganz eigene Art des Erzählens entwickelt. Ob Das Deutsche Wohnzimmer, Feine Leute, Jüdische Portraits, Spuren der Macht oder zuletzt Targets: Stets hat Herlinde Koelbl einen persönlichen und überzeugenden Zugang zu gesellschaftlich-relevanten Themen gefunden. Ihr Interesse am Mitmenschen ist dabei von großer Neugierde und Empathie getragen. Anlässlich Ihres 80. Geburtstags sprachen wir mit der Jubilarin über ihr Werk und die Möglichkeiten der Fotografie.

 

Als Autodidaktin haben Sie Mitte der 1970er-Jahre die Fotografie für sich entdeckt. Sie haben es oft als ein „Ankommen“ beschrieben, was soll dieser Begriff ausdrücken?

Damals war ich auf der Suche. In meinem erlernten Beruf hatte ich durch die Geburt meiner Kinder pausiert und ich wollte etwas Neues machen. Durch einen Zufall hatte ich Filme geschenkt bekommen und begann zu fotografieren. Sofort hatte ich das Gefühl: Das ist es! Es war eine Einheit: Die Fotografie hatte mich gefunden und ich hatte die Fotografie gefunden. Es war tatsächlich eine Art Ankommen.

Und dann ging’s los? Bereits 1980 erschien ihr erster Bildband Das Deutsche Wohnzimmer.

Ja, am Anfang ging es ganz schnell. Zuerst waren es noch Experimente, doch ich habe mich schon bald für Menschen entschieden, die ich fotografieren wollte. Das fand ich einfach am herausforderndsten. Bei der Serie Das Deutsche Wohnzimmer war es ja nicht meine Absicht, einfach das Interieur abzulichten, sondern mich haben die Menschen interessiert oder präziser, wie die Menschen sich selbst in den Räumen präsentieren.

Bis heute ein spannendes soziologisches Projekt.

Ja, aber da ist alles wichtig. Ich habe keine Anweisungen gegeben, damit ich wirklich sehen konnte, wie die Menschen sich präsentieren, wie sie sich auch zueinander in der Familie verhalten, so kann man das ganze Gebilde einer Familie erkennen. Natürlich hat mich auch der Raum interessiert: Was hängt an den Wänden, welche Erinnerungen sind sichtbar? Meine Arbeiten hatten von Anfang an etwas Erzählerisches, das war mir wichtig. Man sieht schon im ersten Buch den roten Faden, der sich durch mein ganzes Werk zieht.

In jener Zeit war das Fotografieren noch etwas Besonderes. Würden sich die Familien heute anders präsentieren, gerade auch weil sie jetzt einfach Selfie-affin sind? Wäre die Serie heute noch wiederholbar?

Ja, auf alle Fälle. Natürlich sahen die Menschen damals anders aus, kleideten und verhielten sich auch anders, heute ist alles vielleicht etwas schicker und edler geworden, aber das Wohnzimmer könnte man auch heute noch als Bild einer Gesellschaft fotografieren. Vielleicht sind die Unterschiede nicht mehr ganz so groß wie damals.

 

Ihre Serie Feine Leute wäre heute aber sicherlich schwieriger?

Ja, ganz sicher, denn die Menschen bewegen sich heute anders in der Öffentlichkeit. Damals in den 1980er-Jahren haben die Leute noch offener ihren Reichtum gezeigt. Heute sind die Menschen sehr viel vorsichtiger, was sie tun und wie sie es tun.

Waren Sie damals denn ganz frei, auf den Bällen und Feierlichkeiten zu fotografieren?

Ich war offiziell akkreditiert. Die anderen Fotografen mussten natürlich immer zeigen, wer da ist, wer wichtig ist, wer mit wem zusammen ist. Ich war ja aus ganz anderen Gründen da, denn ich wollte ganz einfach gesellschaftliches Verhalten, gesellschaftliche Rituale aufzeigen, angefangen von der Begrüßung bis zur Auflösung eines Fests. Ich wollte die Körpersprache zeigen, das Verhalten von Menschen zueinander.

Hat Ihnen die Leica dabei auch ein wenig geholfen, diskreter zu sein?

Damals habe ich schon mit der Leica R fotografiert, das war eine wirklich gute Kamera. Manchmal habe ich auch ganz bewusst mit der Leica M gearbeitet, denn so war ich noch unauffälliger und wurde kaum als Fotografin wahrgenommen. Oft kam dann sogar die Frage, ob ich mir keine richtige Kamera leisten könne.

 

Es hat manchmal also durchaus auch Vorteile, unterschätzt zu werden?

Absolut.

 

Sie fotografieren nicht nur, sondern dokumentieren Ihre Projekte auch durch Videos und Texte. Wann haben Sie damit begonnen?

Fast von Anfang an. Schon beim Deutschen Wohnzimmer gab es Text, der immer auch autorisiert war. Mit dem Film begann ich bei dem Projekt Spuren der Macht; da habe ich nicht nur fotografiert, sondern auch Videos gedreht. Fotografie und Interviews wurden hier gleichgewichtig, weil mich nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige Haltung und Veränderung interessierte, die sich offenbar automatisch einstellt, wenn man an der Macht bleiben will.

 

War Ihnen damals schon bewusst, dass das eine Ihrer wichtigsten Serien werden würde?

Nein. Jedes Thema, das ich bearbeitet habe, war mir wichtig. Was mir bedeutend und gesellschaftlich relevant erschien, habe ich begonnen. Immer ohne Auftrag, ohne Verlag, immer auf eigenes Risiko.

 

Woher nehmen Sie die Kraft, sich immer wieder ganz neu auf Themen einzulassen und diese dann über Jahre hartnäckig zu verfolgen?

Meine Neugier, neue Dinge zu entdecken, ist mein Lebenselixier. Ich möchte mich nicht selbst wiederholen, sondern immer auch eine neue Herausforderung in einem neuen Thema finden. Die Kraft braucht man dann, um es über die Jahre durchzuhalten.

 

Sind Sie immer ein so positiver Mensch gewesen, eine Kämpferin?

Ja. Wenn Sie wirklich für etwas brennen, dann handeln Sie, weil es einfach wichtig ist. Von selbst passiert nichts. Man muss alles selbst anschieben und nur dadurch entsteht etwas.

 

Inzwischen schauen Sie auf über 40 Jahre Fotografie zurück – sind Sie mit der Zeit geduldiger geworden oder hat sich der Wunsch nach Perfektion verstärkt?

Perfektion ist etwas, das absolut bleiben muss. Der Moment, in dem Sie nachlassen, nach Perfektion zu streben, ist der erste Schritt zum Abstieg. Vielleicht bin ich zugleich geduldiger, aber auch ungeduldiger geworden.

 

Sind Sie nie enttäuscht worden bei Ihrer Arbeit?

Natürlich wird man manchmal enttäuscht, das bleibt ja gar nicht aus. Kein Leben besteht ohne Enttäuschungen, aber es ist entscheidend, ob Sie dann beleidigt sind und sich in Ihr Schneckenhaus zurückziehen oder ob sie sich entscheiden, weiterzumachen und einen anderen Weg zu suchen. Erkenntnisgewinn ist immer dabei. Wenn Sie Menschen fotografieren oder interviewen, ist es immer eine große Herausforderung, aber gleichzeitig auch eine große Bereicherung und man kann fast immer etwas von einem anderen Menschen lernen.

 

Was waren für Sie selbst die größten Erkenntnisgewinne?

Die wichtigste Serie für mich war sicherlich Jüdische Portraits. Ich habe damals die führenden Persönlichkeiten, die dem Holocaust entkommen sind, noch auf der ganzen Welt besucht, sie porträtiert, aber auch lange Interviews geführt. Es ging mir ganz grundsätzlich um ihre Lebenserfahrungen. Deshalb habe ich nach jüdischer Identität, nach Heimat, nach essenziellen Erfahrungen gefragt. Ich wollte zeigen, was wir verloren haben. Wenn Sie genau hinsehen, sind die Spuren dieses Verlustes noch heute spürbar. Damals habe ich geglaubt, der Holocaust sei so stark im Gedächtnis der Menschen verankert, dass solche erschreckenden Ausschreitungen, Anschläge und Antisemitismus wie jetzt, nicht wieder möglich wären. Das habe ich mir nicht vorstellen können.

 

Kann Fotografie etwas verändern?

Nicht direkt. Aber sie kann – wenn sie gut ist – Menschen berühren, nachdenklich machen. Sie kann Menschen auf etwas aufmerksam machen, was sie vorher nicht gesehen haben. Fotografie kann Augen öffnen. Und dann entsteht die Hoffnung, dass die Menschen durch das, was sie gesehen haben, ihr eigenes Leben verändern oder eine Botschaft mit anderen Menschen teilen und weitertragen.

 

Liebe Frau Koelbl, wir gratulieren zu Ihrem Geburtstag und danken für das Gespräch.

 

HERLINDE KOELBL wurde am 31. Oktober 1939 in Lindau geboren. Nach der Schulzeit zunächst Modestudium in München, ab Mitte der 1970er-Jahre Entdeckung der Fotografie. Frühe Projekte waren Das Deutsche Wohnzimmer (1980) und Feine Leute (1986). Ihre Arbeiten entstehen fast immer als auftragsfreie Langzeitprojekte. Im Kleinbildbereich häufiger Einsatz der Leica M und R, im Mittelformat auch einer Hasselblad-Kamera. Aus einigen Projekten entstanden themengleiche Dokumentarfilme, u.a. Spuren der Macht. Die Verwandlung durch das Amt (1999), Die Meute. Macht und Ohnmacht der Medien (2001) sowie Videoinstallationen, u.a. Wille, Macht und Wandel (2005), Goldmund (2005) oder Haare (2007). Vielfache Auszeichnungen, u.a. Leica Medal of Excellence (1987), Dr.-Erich-Salomon-Preis der DGPh (2001), Bundesverdienstkreuz am Bande (2009), Bayrischer Verdienstorden (2013). Sie lebt und arbeitet in Neuried bei München.

 

Wenn Sie weiter Arbeiten von Herlinde Koelbl sehen wollen, besuchen Sie Ihre Website: www.herlindekoelbl.de

 

Die Ausgabe 8/2019 der LFI ehrt die Fotografin anlässlich ihres Geburtstags mit einem Portfolio in der Reihe der Leica Klassiker.

 

Die Ausstellung Mein Blick läuft in der gerade eröffneten Leica Galerie Stuttgart bis zum 30. Dezember.