Gedämpfte Farben, mit einem leichten Hauch von Sepia – so sahen viele Jahrzehnte lang fotografisch festgehaltene Familienerinnerungen aus. Aber was ist, wenn diese Erinnerungen und diese Bilder nicht real sind? Was ist, wenn die Menschen, die eine Familie gebildet haben könnten, sich nie wirklich gekannt haben – wie es bei Marzio Emilio Villa der Fall ist? Villa war drei Monate alt, als ihn seine italienischen Eltern in Brasilien adoptiert haben. Seine biologischen Eltern kennt er nicht und hat nie versucht, sie kennenzulernen. Mit fotografischen Mitteln will er diese Lücke in seiner Vergangenheit schließen.

Bitte erzählen Sie uns wie Ihr Projekt „La Marée de la Mémoire“ (Die Welle der Erinnerung) entstanden ist.

Für Menschen, die wie mein Bruder und ich adoptiert sind, ist es äußerst wichtig, Familienerinnerungen zu schaffen. Der Teil ihres Lebens, der ihrer Adoption vorausging, ist oft einfach nicht existent. Für mich ist es ein Rätsel, das nie gelöst werden wird. Auf meiner Geburtsurkunde steht ein anderer Name, und als ich adoptiert wurde, begann ein neues Leben – ich wurde ein neuer Mensch. Meine Eltern bewahrten eine Kiste mit Souvenirs und Fotodokumenten für meinen Bruder auf. In dieser Schachtel fand ich auch ein Tagebuch mit den Informationen und Adressen, die ich für dieses Projekt benötigte. Es brauchte 32 Jahre, bis ich den Mut fand, es zu lesen.

Welche Motivation steht hinter „La Marée de la Mémoire“?

Meine wichtigste Motivation war, zu erforschen, woher ich komme. Es begann damit, dass mein Bruder im Urlaub nach Brasilien flog, um mehr über seine Vergangenheit herauszufinden. Zuerst hatte ich Angst davor, mich auch auf den Weg zu machen, aber dann dachte ich, dass das Erzählen dieser Geschichte eine Möglichkeit wäre, zu verhindern, den Rest meines Lebens über meine Geschichte nachzudenken. Als ich zurückkam, habe ich die Bilder sieben Monate lang nicht angerührt. Ich brauchte etwas Abstand von der ganzen Erfahrung.

 

Ihre Bilder zeichnen sich durch gedämpfte Farben aus. Wie sind Sie zu dieser Ästhetik gekommen?

Nach zehn Jahren Schwarzweißfotografie habe ich mich dem Studium der Farben gewidmet. Was Sie hier sehen, ist das Ergebnis von mehr als vier Jahren Forschung darüber, wie ich meine Gefühle am besten durch Farbe ausdrücken kann. Ich machte mich daran, ein introspektives Projekt zum Thema Identität zu schaffen, und wie für viele Fotografen ist meine Arbeit auch meine Therapie. Ich würde meinen Stil als statisch, leicht dunkel beschreiben, mit Anspielungen auf die Ikonografie der Renaissance. Tatsächlich ist ein großer Teil meiner Fotografie von der Malerei inspiriert. Besonders mag ich alte Porträts, deren Farben leicht verblasst sind, und ich versuche, diese Atmosphäre in meiner Fotografie einzufangen. Auch wenn sich mein Stil ständig weiterentwickelt, bleibt diese Charakteristik doch erhalten. Ich bevorzuge eine minimalistische Ästhetik und meine Porträts bestehen meist aus einfachen Kompositionen, in denen sich die Person in der Mitte des Bildes befindet.

Ihre Fotografien strahlen auch eine gewisse Melancholie aus. War das Ihre Absicht?

Für mich sind Erinnerungen unweigerlich mit Melancholie verbunden. Als ich nach Brasilien reiste, war eine meiner wichtigsten Absichten, dieses Gefühl visuell auszudrücken. Die Leica S ermöglichte es mir, die perfekte optische Dichte zu erreichen und die Farben zu finden, die meinen Gefühlen entsprachen. Nach meiner Rückkehr justierte ich auch die Farben der ersten Fotos, die ich für dieses Projekt gemacht hatte, entsprechend. Ich stellte fest, dass Farben das perfekte Mittel waren, um meine Gefühle auszudrücken.

 

Wie hat Ihre Familie auf diese Bilder reagiert?

Sie waren sehr bewegt, weil sie die Landschaften, die Kirche, die Gebäude, in denen wir gelebt hatten, sowie einige der Orte, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre verändert hatten, wiedererkannten. Heute haben wir das Internet, das es leichter machte, Orte zu finden und Geschichten zu verstehen, die sie mir vorher nicht erzählt hatten.

In den meisten Bilder dieser Serie sind keine Menschen zu sehen. Warum haben Sie sich für diesen Ansatz entschieden, gerade in einer Metropole wie Curitiba?

Ich liebe diesen kurzen Zeitraum, in dem sich die Wege der Menschen nicht kreuzen; diesen kleinen Moment der Ruhe, wenn die Stadt den Atem anhält … dann drücke ich auf den Auslöser. Es ist ein statischer Moment zwischen dem Vorher und Nachher, aufgeladen mit unsichtbaren Emotionen. Manchmal warte und warte ich auf diesen Moment. Als ich zum Beispiel das Haus in Curitiba fotografierte, in dem wir früher wohnten, stand ich mehr als eine Stunde vor dem Gebäude und wartete auf das perfekte Licht.

 

Sie haben auch den Priester fotografiert, der Ihre Adoption organisiert hatte, als Sie drei Monate alt waren. Wie haben Sie das empfunden?

Einige Leute der Gemeinde in Brasilien, in deren Kirche ich getauft worden war, haben ein Treffen mit dem Priester arrangiert. Nach einer kurzen Einführung und Erklärung, warum ich dort war, fragte mich der Priester nach den Namen meiner Adoptiveltern. Ich war so überwältigt, dass ich kaum sprechen konnte. Es war ein sehr starker Moment, denn dieser Priester hatte zu meiner Adoption beigetragen und er erinnerte sich tatsächlich an meine Eltern. Dann zeigte er mir das Haus, in dem meine Eltern während ihrer Zeit in Curitiba gelebt hatten, und auch das habe ich fotografiert.

Sie arbeiten in der Regel mit analogem Equipment. Warum haben Sie sich bei diesem Projekt für eine digitale Ausrüstung entschieden?

Ja, meistens ziehe ich es vor, mit Film zu arbeiten, aber ich war in einer Phase, in der ich mich mit Farbe beschäftigen wollte – und dann verwende ich in der Regel Digitalkameras. Ich habe das Projekt mit der M (Typ 240) begonnen. Ich schätze es, beide Ansätze auszubalancieren, meinen Stil zu entwickeln und mit einer Vielzahl von Techniken vertraut zu sein. Neben der M habe ich wie gesagt auch die Leica S verwendet. Ich fotografiere seit zehn Jahren mit der M, aber die Leica S gewinnt in meiner Arbeit an Bedeutung. Mit einer Studiokamera wie der S muss man es langsam angehen lassen und über das Bild nachdenken, das man aufnimmt, vor allem wenn es sich um Porträts handelt. Ich glaube, meine Aufnahmen zeigen, dass ich mich etwas intensiver in die Materie vertiefen musste.

 

Wie sind Sie zum Fotografen geworden?

Ich habe an der Mailänder Akademie für bildende Kunst studiert. Ich wollte schon immer Fotograf werden, obwohl es nicht immer einfach war. Ich musste viele Opfer bringen, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin.

Was ist Ihre persönliche Leica Geschichte?

Als 14-Jähriger besuchte ich eine weiterführende Schule mit einem künstlerischen Schwerpunkt. Dort habe ich zum ersten Mal von Leica gehört. Ich war völlig fasziniert und habe sogar einen zweiten Job angenommen, um meine erste Leica zu kaufen – eine IIIc aus dem Jahr 1942. Neben der digitalen M und der Leica S besitze ich auch eine analoge M.

 

Was können Sie uns über Ihre aktuellen Projekte erzählen?

Meine Reise nach Brasilien war sehr inspirierend. Gleichzeitig bin ich auf eine andere Art von Rassismus gestoßen, als ich sie in Italien erlebt habe. Ich denke, das hat mit der Geschichte des Landes zu tun, denn es gab viele afrikanische Sklaven in Brasilien. Also entschied ich mich, dieses wichtige Thema in meiner Arbeit anzusprechen und begann, Porträts von schwarzen Italienern zu machen. Dabei habe ich mich für eine analoge Leica M für die Schwarz-Weiß-Porträts entschieden und bei Farbe für die Leica S.

1987 in Brasilien geboren, wurde Marzio Emilio Villa im Alter von drei Monaten adoptiert und wuchs in Italien auf. Nachdem er in Mailand Kunst studiert hatte, zog er mit 23 Jahren nach Paris. Beeinflusst durch seine eigene Geschichte, beschäftigt sich Villa vor allem mit Themen wie Identität, soziale Strukturen und Diskriminierung. Seit Februar 2017 ist Villa Mitglied der Agentur Hans Lucas. Er lebt und arbeitet in Paris. Weitere Arbeiten des Fotografen finden Sie auf seiner Website und auf Instagram. Sein Projekt „La Marée de la Mémoire“ wird auch als Portfolio in der LFI 01.2020.

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Marzio Emilio Villa im Alter von drei Monaten adoptiert und wuchs in Italien auf. Nachdem er in Mailand Kunst studiert hatte, zog er mit 23 Jahren nach Paris. Beeinflusst durch seine eigene Geschichte, beschäftigt sich Villa vor allem mit Themen wie Identität, soziale Strukturen und Diskriminierung. Seit Februar 2017 ist Villa Mitglied der Agentur Hans Lucas Agency. Er lebt und arbeitet in Paris. Sehen Sie mehr von Marzios Arbeit auf seiner Website und Instagram. Sein Projekt ‚La Marée de la Mémoire‘ wurde auch in der Portfolio-Rubrik des LFI 01.2020 vorgestellt.