Exaltierte Gesten, obskure Figuren und ungewöhnliche Schauplätze – für ihre ausdrucksstarke Fotografie fand Meg Hewitt in Japan, insbesondere in Tokio, die perfekte Bühne. Die oft übertriebenen Posen ihrer Protagonisten, denen sie auf der Straße, in der U-Bahn oder bestimmten Bars begegnete, erinnern an die Schauspielkunst des japanischen Nō-Theaters – eine traditionelle Kunst, für die sich Hewitt interessiert.

Wann haben Sie Japan das erste Mal besucht?

Zum ersten Mal war ich 1998 dort, auf dem Weg nach Großbritannien hatte ich einen Zwischenstopp eingelegt. Ich war erstaunt, wie sehr sich das Land von Australien unterscheidet. Ich war eine Woche in Kyoto und versuchte, die Kultur zu erforschen und zu verstehen. Bis nach Tokio schaffte ich es auf dieser Reise nicht. Damals gab es viele Schilder nur auf Japanisch, sodass es eine größere Herausforderung war als heute, wo insbesondere Züge und Straßen international beschildert sind. Ich liebe Japan sehr. Es ist ein so schönes Land und die Menschen sind so freundlich und höflich. Es erstaunt mich immer wieder, wie ruhig es in einer überfüllten U-Bahn zugeht und sich die vielen Pendler scheinbar mühelos in die Enge fügen, ohne aufdringlich oder aggressiv zu sein. Wenn ich aus Japan zurückkehre, wirken meine Landsleute immer ein wenig unverfroren auf mich.

Was wollen Sie mit Ihrem Projekt Tokyo is Yours zum Ausdruck bringen?

war mein erstes großes Langzeitprojekt. Ich war sehr betroffen von den Ereignissen infolge des großen Erdbebens im Osten 2011, dem Tsunami und der Kernschmelze im AKW Fukushima. Ich fragte mich, was wohl für eine Stimmung in Tokio, das nur 240 Kilometer südlich von Fukushima liegt, herrschte. Tokio ist eine Metropole mit über 14 Millionen Einwohnern. Die meisten sind auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, sodass eine Evakuierung nur sehr schwer zu bewerkstelligen gewesen wäre – der frühere Premierminister Naoto Kan gab aber 2016 zu, dass er sie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Es war eine leider sehr reale Science-Fiction-Situation. Als ich zum ersten Mal für mein Projekt nach Tokio kam, sah ich überall das Graffiti „Tokyo is Yours“. Es war wie eine Beschwörung, dass Tokio trotz der Ereignisse immer noch Bestand hatte.

 

Wie beschreiben Sie Ihren visuellen Stil?

Ich habe mich zunächst mit Street- und Dokumentarfotografie befasst. Ich wollte über bloßen Fotojournalismus hinausgehen und emotionales, imaginäres Erzählen erkunden. Ich habe mich mit der Geschichte des Films beschäftigt. Ich schätze den Film noir und die Psychologie des Schnitts, die auf frühen Gehirn- und Gedächtnisstudien der Surrealisten beruht. Die Straße ist mein Ausgangspunkt. Ich gehe nicht mit der Absicht hinaus, aus der Ferne zu fotografieren, sondern ich will Menschen treffen und mit ihnen interagieren.

Welche Fotografen haben Sie inspiriert?

Einige meiner frühen Lieben waren Trent Parke und Anders Pedersen. Ich bemühte mich, alles über die analoge Fotografie zu lernen, um die Texturen und Kontraste zu erzielen, die mich so angesprochen haben. Ich schätze den Dialog, den Pedersen mit Menschen führt. Sein Fotobuch Café Lehmitz ist eine erstaunliche Aufzeichnung einer Zeit und eines Orts, die seine Auseinandersetzung mit einem Thema verdeutlicht. Pedersen nimmt an der Situation teil und seine Protagonisten fühlen sich wohl, wenn er fotografiert. Diane Arbus ist auch eine große Favoritin. Sie konnte wunderbar mit Menschen umgehen und fühlte sich von Menschen und Dingen angezogen, die sie bewegten.

Wie hat die japanische Fotografie Ihre Arbeit beeinflusst?

Auf meinen Reisen habe ich natürlich mehr über die japanische Fototradition erfahren. Bei der Provoke-Fotografie geht es meistens um die Bildauswahl, sie ist roh und folgt einem Beat. Mein japanischer Lieblingsfotograf ist Masahisa Fukase. Ich habe ihn durch das Buch The Solitude of Ravens entdeckt. Ich liebe die Emotionen in seinem Werk und seine Besessenheit. Eine der schwierigsten Aufgaben für Fotografen beim Zusammenstellen eines Buchs besteht darin, Bildgruppen zu finden, die visuell zusammenpassen. Ich stelle mir immer eine Wohnung voller Lieblingsbilder vor – dann gehe ich hinaus, um Bilder aufzunehmen, die ich meiner Sammlung hinzufügen kann.

Wie sind Sie mit japanischen Subkulturen in Kontakt gekommen?

Es gibt viele Subkulturen in Japan: Rockabilly, Punk, Heavy Metal, Rock ’n’ Roll, Lolita, Fairy Kei und Früchte. Viele treffen sich in Vierteln wie Harajuku, Shinjuku, Shibuya und Shimokitazawa. Es gibt viele kleine Bars, die auf eine bestimmte Szene spezialisiert sind und in denen man Leute treffen kann. Ich habe auch einen Freund, der gern in einen Anime-Club geht. Dort verkleidet man sich als seine Lieblings-Anime-Figur und tanzt zu Musik mit übertriebenen Anime-Klängen. Eine Zu meinen Lieblingskneipen in Tokio gehört eine Transgender-Bar, die auch ein Treffpunkt für Male ist. Über der Bar lebt ein Mann, der schweigend in der Mitte seines Zimmers sitzt und Haikus dichtet.

 

Warum haben Sie sich für Leica Kameras entschieden?

Wenn man instinktiv und emotional arbeitet, möchte man ein Kamerasystem, das wirklich zur Erweiterung der eigenen Person wird. Die einfache Bedienung und manuelle Kontrolle des M-Systems machen die Kamera zu meiner zweiten Natur, zu einer Erweiterung meines Geistes und Körpers. Das Gefühl beim Auslösen einer Leica unterscheidet sich von allen anderen Kameras. Man fühlt, dass man Bilder macht und nicht aufnimmt. Ich arbeite eng mit Menschen zusammen, daher ist eine unaufdringliche Kamera definitiv Teil meiner Vorgehensweise. Das Messsuchersystem ermöglicht es mir, besser vorauszusehen, was gleich im Bildrahmen geschieht.

Was erwartet die Teilnehmer Ihrer Workshops?
Derzeit leite ich zwei Workshops in Japan, im Frühjahr in Tokio und im Herbst in Kyoto. Ich kenne beide Städte ziemlich gut, also helfe ich den Teilnehmern, schnell die interessanten Orte zu finden und zu erschließen, um in einer Woche eine Serie aufbauen zu können. Für viele Teilnehmer ist es eine Herausforderung, sich Menschen, die sie nicht kennen, zu nähern und mit ihnen zu interagieren, um zu fotografieren. Ich spreche verschiedene Möglichkeiten an und helfe den einzelnen Teilnehmern vor Ort, sich allen Herausforderungen zu stellen. Wenn man die Erlaubnis zu fotografieren hat, verbessert sich die Qualität der Porträts. Ich ermuntere die Teilnehmer, sich die Zeit zu nehmen und zu überlegen, wie man sich fühlt, was einen fasziniert und zu einer Aufnahme zwingt. Während des Workshops verbringen wir einen Abend gemeinsam und ich zeige den Teilnehmern viele Orte, die schwer zu finden sind: kleine Gassen, Bars, Treffpunkte der Subkulturen und japanischer Fotografen.

Nach Abschluss ihres Studiums der Bildenden Kunst betrieb Meg Hewitt zwölf Jahre ein Restaurant in Sydney, ehe sie sich der Fotografie zuwandte. Heute arbeitet sie an ihren Projekten, assistiert einem Master Printer und leitet Workshops. Für ihr Fotobuch Tokyo is Yours erhielt sie mehrere internationale Preise. Ihre erste Einzelausstellung in Europa hatte sie 2019 in der Anne Clergue Gallery in Arles.

Einen Platz in Hewitts Workshops könne Sie auf ihrer Website buchen. Weitere Arbeiten finden Sie auf Instagram. Ihr Projekt Tokyo is Yours wird auch in der LFI 2/2020 vorgestellt.

 

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

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