Joe Greer lebt in New York. Der Freiberufler hat sich auf analoge Fotografie spezialisiert. Mit seiner Leica M6 komponiert Greer kunstvoll analoge Bilder, die er über soziale Medien mit einem weltweiten Publikum teilt. Im Interview spricht er über seine Liebe zum Analogen, über die einzigartige Perspektive, die er dadurch erhält, und warum er dessen Erfolg, insbesondere bei Jüngeren, als logische Folge unseres digitalen Lebensstils versteht.

Woher kommen Sie?

Ich lebe derzeit in Brooklyn, New York. Ich wurde in Michigan geboren, bin aber in Florida aufgewachsen. Ich habe acht Jahre an der Westküste in drei Bundesstaaten gelebt, bin also eher ein Mensch vom Typ Vagabund. Für mich, zumindest in meinen 20ern und jetzt in meinen 30ern, war mein Zuhause immer dort, wo ich gerade bin. Und wo auch immer meine Frau gerade ist. [lacht]

Darf ich Sie bitten, Ihren fotografischen Stil mit einem Wort zu beschreiben?

Hm, großartige Frage. Ich sage mal: ehrlich. Es ist schwer, meine Arbeit in eine Schublade zu stecken, aber so sollen meine Aufnahmen sein. Ehrlichkeit ist das, was ich suche, was ich finde, wenn ich die Welt in irgendeinem Kontext betrete – auf der Straße, in der Natur, auf einer Reise mit meiner Frau, beim Auftrag eines Kunden. Wenn ich ganz bei mir bin und Bilder aufnehme, versuche ich, die Ehrlichkeit einer Situation einzufangen, um sie dem Betrachter zu vermitteln.

Haben Sie ein bevorzugtes Genre?

Nein, ich mag sie alle.

Sie erwähnten, dass Sie sich als Fotograf des Lebens verstehen …

Genau. Vor ein paar Jahren hatte ich einen Freund, zu dem ich wirklich aufsah und von dem ich mir Ratschläge geben ließ. Er sagte, in puncto Fotografie sei es wichtig, die eigene Spur zu finden und nicht zu verlieren. Ich habe damit gerungen, weil mir so viele verschiedene Genres der Fotografie gefallen haben. Ich dachte, wenn es das ist, was ich für den Rest meines Lebens machen möchte, warum um alles in der Welt sollte ich mich dann in eine Spur einordnen, wo die Straße doch so breit ist? Ich ermutige die Menschen, so viele Genres der Fotografie zu erforschen, wie sie können. Und deshalb sage ich, dass ich mich als Fotograf des Lebens sehe. Solange ich eine Kamera um den Hals habe, möchte ich in jeder Situation, die das Leben für mich bereithält, fähig, gewappnet und in der Lage sein, ein Foto zu machen.

Gibt es eine bestimmte Botschaft, die Sie mit Ihrer Fotografie vermitteln wollen?

Ich denke, bei jedem Fotografen gibt es immer eine Botschaft, die er vermittelt, denn jeder Fotograf hat einen anderen Hintergrund und eine andere Erziehung. Das beeinflusst, was man hinter der Kamera macht und wie man die Welt sieht. Für mich ist ein wichtiges Thema, das sich aus meiner Arbeit ergibt, die Emotion. Wenn ich beim Betrachter eine Emotion hervorrufen kann, habe ich das Gefühl, dass ich meine Arbeit gemacht habe. Einige meiner größten Inspirationen kamen beim Durchblättern von Fotobüchern, wenn ich an einem Bild hängen blieb, das mich zu Tränen rührte. Wenn ich eine solche Wirkung auf jemanden im Zeitalter von Instagram ausüben kann, indem ich ihn dazu bringe, ein Bild für einige Momente wirken und sich davon berühren zu lassen, habe ich das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.

Wie entscheiden Sie, was Sie fotografieren?

Ich fühle mich zu Farben hingezogen. Sie sind ein großer Teil meiner Fotografie und wie ich ein Bild komponiere – welche Rolle bestimmte Farben in einer Szenerie spielen. Den Großteil meiner Arbeit gehe ich nach Tageszeit an, nach der Menge der Wärme, die die Sonne in eine bestimmte Szenerie bringt. Auf einer tieferen Ebene gibt es dieses tiefe Gefühl der Balance, wenn ich einem Bild begegne, das ich aufnehmen möchte. Dann weiß ich, was ich fotografieren muss. Es ist ein Bauchgefühl.

Wo hat Ihre Leidenschaft für die Fotografie ihren Ursprung?

Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht. Die Fotografie kam in mein Leben, als ich am wenigsten damit gerechnet hatte. Als Kind und Jugendlicher war ich Leistungssportler, weit bis in die Zeit am College hinein. Nachdem ich über zehn Jahre sportliche Ziele verfolgt hatte, gab es plötzlich diese neue Sache, die mir Freude machte, die mich in Aufregung versetzte, die mir Glück und Frieden brachte. Es begann als Hobby mit meinen Freunden im Bundesstaat Washington. Wir vernachlässigten gerne unsere Studien und Dinge, die wir zu erledigen hatten, um einen Sonnenaufgang zu erleben und ein paar Fotos zu machen. Das verwandelte sich bald in den Wunsch, besser werden zu wollen, zu wachsen und das Handwerk des Fotografierens und Geschichtenerzählens zu beherrschen.

Sie sagten gerade, die Fotografie bringe Ihnen Frieden. Verbinden Sie das speziell mit der Analogfotografie?

Ganz sicher. Ich glaube, es hängt mit der Art und Weise zusammen, wie ich die Fotografie entdeckt habe, nämlich über Instagram. Ich habe weder eine Foto- noch eine Kunstschule besucht. Mein ganzes Leben lang war ich ein sehr schnelllebiger Mensch, sehr extrovertiert, sehr kontaktfreudig, analoge Fotografie war das Beste, was mir passiert ist – persönlich und künstlerisch. Sie hat mich entschleunigt, mich dazu gebracht, anzuhalten und mich umzusehen. Ich fotografiere auch digital und genieße es, aber die analoge Fotografie bietet etwas, das die digitale Fotografie nicht kann.

Wie beschreiben Sie den Unterschied?

Der besteht darin, wie ein Negativ „singt“. Anders kann ich es nicht sagen. Bei der Digitalfotografie ist es einfach nicht dasselbe. Dort wird es immer binär zugehen, Bits und Bytes, mathematische Ordnung. Aufgrund seiner chemischen Natur ist Film in gewisser Weise organisch, er ist chaotisch. Er ist schön und unvollkommen. Die analoge Fotografie ist radikal anders. Es war für mich am Anfang eine große Herausforderung. Und ich liebe Herausforderungen! Es gibt immer noch viel, was ich nicht über analoge Fotografie weiß, aber was ich auf jeden Fall sagen kann, ist, dass mir meine Leica M6 geholfen hat, schlechte Gewohnheiten, die mir die Instagram- und Smartphone-Fotografie schon früh beigebracht hat, zu verlernen. Etwa Serienaufnahmen zu fotografieren, 100 Bilder in sechs Sekunden. Heute fühlt sich das für mich wie ein fotografischer Schummelzettel an.

Was macht es mit Ihnen, wenn Sie wissen, dass Sie nur 36 oder 72 Bilder aufnehmen können?

Das ändert alles! Man geht anders auf die Straße, wenn man weiß, dass man nur zwei Rollen Film dabeihat. Und wenn die verschossen sind, dann war’s das. Man macht sich viel mehr Gedanken darüber, was man aufnehmen möchte, welche Geschichten man erzählen will. Im Serienbild-Modus gibt es keinen entscheidenden Moment. Man ist nicht da, es gibt keine künstlerische Entscheidungsfindung in diesem Prozess. Man schaut nicht zu, während sich eine Szene entwickelt. Bei der analogen Fotografie muss man sich entschleunigen, atmen, die Augen öffnen, zusehen, wie die Welt an einem vorbeizieht. Man muss sich Zeit lassen, auf diesen einen Moment warten und ihn nutzen.

Fotografieren mit der Leica M6 hat Sie also gelehrt, langsamer zu werden?

Definitiv – persönlich und künstlerisch. In unserer immer schnelllebigeren Kultur hat sie mich gelehrt, mir Zeit zu nehmen und das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Meine M6 ermöglicht es mir, die Welt auf eine so einfache und schöne Weise zu sehen, und dafür bin ich ewig dankbar.

Warum ist die analoge Fotografie gerade bei jungen Leuten wieder auf dem Vormarsch?

Ich glaube, die jüngere Generation sucht nach der analogen Fotografie, weil sie etwas Greifbares, Körperliches, etwas zum Anfassen will. Die digitale Fotografie bietet eine solche Erfahrung nicht. Wir sind heutzutage physisch vom Fotografieren getrennt, soweit es sich um digitale Fotografie handelt. Bei Film ist das anders.

Was gefällt Ihnen beim analogen Prozess am besten?

Ich bin von dem gesamten Prozess besessen, von Anfang bis Ende. Eine Rolle aus meinem Kühlschrank zu nehmen, in dem ich immer mindestens 50 Filme lagere, sie in meine Kamera zu legen und jede einzelne dieser 36 Aufnahmen zu genießen. Wenn der Film voll ist, nehme ich ihn aus der Kamera und schreibe meine kleinen Notizen darauf. Der ganze Prozess ist so greifbar. Ich gehe ins Labor und gebe den Film ab, aufgeregt, und frage mich, wann die Scans ankommen werden. Beim Durchblättern der Scans entdecken ich jede Aufnahme wieder, ich erinnere mich an meinen Tag, an die Szenen, die ich erlebt habe. All das fühlt sich bei digitaler Technik anders an. Ich glaube, deshalb liebt auch die jüngere Generation die analoge Fotografie. Sie ist direkt, sie ist erfahrbar, es gibt sie schon so lange – sie funktioniert als Gegengewicht zu unserem modernen, digitalen Lebensstil.

Ist für Sie die analoge Fotografie der digitalen überlegen?

So weit würde ich nicht gehen – sie haben beide ihren Platz. Aber Film „singt“ einfach anders, besser kann ich es nicht erklären. Es gibt etwas in der Art und Weise, wie die Farben wiedergegeben werden. Wie der Film auf Licht reagiert. Außerdem können Sie aus einer riesigen Auswahl von Filmmaterial wählen, dessen Eigenschaften ausprobieren und experimentieren. Beim Film begegnet man oft kleinen Unvollkommenheiten, Elementen des Chaos, Filmbrand, die zu seinem einzigartigen Charme beitragen. Für mich sind es genau diese Unvollkommenheiten, die analoge Bilder noch schöner machen.

Woher rührt diese Faszination für kleine Unvollkommenheiten?

Weil das Leben buchstäblich voll ist von diesen schönen, unwahrscheinlichen, vergessenen Unvollkommenheiten. Das gilt auch für die analoge Fotografie. Kleine Unvollkommenheiten sind überall vorhanden, man muss sie einfach für das, was sie zum Gesamtbild beitragen, schätzen. Sie sind ein Teil der Reise.

Glauben Sie, dass es eine Zukunft für die analoge Fotografie gibt?

Ganz sicher. Ich glaube, der Film wird weiter an Popularität gewinnen. Die Begeisterung ist nicht nur auf junge Leute beschränkt – ich habe auch mit vielen älteren gesprochen, die zum Film zurückwollen. Die Digitalfotografie kam erst vor zwei Jahrzehnten auf den Markt und alle sind umgestiegen. Und jetzt entscheiden sich viele Leute, zurückzugehen oder zumindest sowohl digital als auch analog zu fotografieren.

Sie fotografieren auch im Mittelformat. Wie entscheiden Sie, wann Sie mit Ihrer Leica M6 fotografieren?

Wenn ich mich dazu entschließe, die M6 zu verwenden, dann nur aus dem Bauch heraus. Und ehrlich gesagt, das ist fast jeden Tag der Fall. Immer wenn ich zu einem Meeting in die Stadt fahre, nehme ich mein Telefon, meine Brieftasche – und als nächstes die M6. Sie ist regelrecht eine Erweiterung meiner selbst und meiner Sicht auf die Welt. Es klingt vielleicht kitschig, aber diese Kamera ist die eine Sache, die ich immer bei mir haben möchte. Aber es gibt natürlich Zeiten, in denen ich für bestimmte Stimmungen oder Aufgaben andere Kameras auswähle.

Wenn Sie sich für den Rest Ihres Lebens für ein Objektiv und eine Kamera entscheiden müssten, welche wären das?

Die Leica M6 oder die Leica MP und eine 28-mm-Brennweite. Wissen Sie, ich sehe die Welt in 28 Millimetern, sobald ich aus meiner Tür gehe.

Was wäre Ihr bester Tipp für jemanden, der anfängt, analog zu fotografieren?

Allgemein, egal ob analog oder digital, ginge es um das Experimentieren. Darum, an neue Orte zu gehen, an denen man noch nie zuvor war. Das gibt einem eine Perspektive auf die Dinge, die unglaublich lohnend ist. Scheue dich nicht, neue Dinge auszuprobieren! Wenn du deine fotografische Routine unterbrichst und in einen unbekannten Raum trittst, um den Dingen fotografisch nachzugehen, wenn du über das Vertraute hinausgehst, um deiner Leidenschaft zu folgen – dann werden schöne Dinge geschehen.

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

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