Trotz des Friedensabkommens Minsk II sind die Wohngebiete entlang der Frontlinien in der Region Donezk nach wie vor von regelmäßigen Bombardements betroffen. Hier leistet die Zivilbevölkerung, deren Familien oft auseinandergerissen sind, weiterhin Widerstand. In der Hoffnung, dass eine Lösung gefunden und der Konflikt endlich beendet wird, weigern sich manche Einwohner, die Gebiete zu verlassen.

Herr Pion, bitte erzählen Sie uns ein wenig über sich selbst.
Ich bin ein französischer Fotograf mit mehr als 20-jähriger Berufserfahrung auf der ganzen Welt. Ich versuche Momente im Leben der Menschheit, mit Licht zu beschreiben.

Wann haben Sie mit dem Fotografieren begonnen?
Mit 15 Jahren lieh ich mir die Kamera meines Vaters und fotografierte meine ersten Schwarzweißaufnahmen. Schon bald richtete ich mir im Keller eine Dunkelkammer ein. Ich wollte die Ergebnisse meiner Arbeit so schnell wie möglich sehen und war fasziniert – im wahrsten Sinne des Wortes – von dem „magischen“ Prozess der Filmentwicklung. Diese Leidenschaft führte mich schließlich 1981 in die Klassenzimmer der École nationale supérieure Louis-Lumière in Paris.

Welche Fotografen inspirieren Sie?
Anstatt bekannte Namen zu nennen, möchte ich vor allem das außergewöhnliche Talent der Pioniere der Fotografie hervorheben, die mit technischen Mitteln arbeiteten, die heute überholt scheinen, die aber zweifellos meine Art und Weise, ein Bild zu konzipieren, geprägt haben. Ich habe das Gefühl, dass sie innerhalb von 40 Jahren bereits praktisch alles erforscht haben, was die „fotografische Maschine“ zu vermitteln vermag.

Der Konflikt im Donbass ist ein sehr komplexes Thema. Wie kamen Sie auf die Idee, in der Stadt Donezk zu fotografieren?
Es ist ein persönliches Projekt, ohne die Zwänge redaktioneller Kontrolle, das sich mit einer Konfliktzone nach „großen Schlachten“ befasst. Praktisch niemand interessiert sich mehr dafür, obwohl sie vor den Toren Europas liegt. Die Entscheidung, auf die Seite der Separatisten in Donezk zu gehen, war mit dem Wunsch verbunden, zu verstehen, wie Zivilisten diesen latenten Konflikt heute erleben, in einer Stadt, über die westliche Fotografen nur sehr selten berichten. Die Frontlinie auf ukrainischer Seite erfährt viel mehr Aufmerksamkeit.

In welcher Lage befindet sich die Stadt?
Im Februar 2015 gelang es nach langen Stunden des Verhandelns, mit dem Minsk-II-Abkommen einen Waffenstillstand zu erreichen, der am 15. des Monats in Kraft treten sollte. Das Abkommen regelte insbesondere den Abzug schwerer Waffen von der Frontlinie zwischen der Ukraine und den Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Leider sieht die Realität ganz anders aus. In Donezk leeren sich in Frontnähe nach und nach ganze Stadtviertel und Dörfer, einige sind in zwei Teile zerschnitten. Die Menschen ziehen in „ruhigere“ Gebiete oder sogar ins Ausland. Häuser brennen, Mauern zerbröckeln und Fenster zerspringen. Die letzten Babuschkas und Familien, die sich zu gehen weigern, bleiben sich selbst überlassen. Der Konflikt fordert jede Woche seinen Tribut, unschuldige Zivilisten, aber auch Kämpfer. Letztere sind oft sehr jung und haben sich schon früh den Verteidigungskräften angeschlossen. Die meisten Kinder, die in der Nähe der Frontlinie leben oder gelebt haben, sind traumatisiert: das allzu frühe Verschwinden eines Vaters, die Bombenexplosionen, die noch in ihren Köpfen widerhallen und mit jedem dumpfen Knall ihre Ängste neu wecken. Es ist eine ganze Generation, die nie etwas anderes als Krieg erlebt hat und mit der man sich eines Tages auseinandersetzen muss. Die Gesichter, in die ich sah, gehörten nicht „Terroristen“ – trotz der Definition, die die Regierung in Kiew immer noch anwendet. Vielmehr spiegelten sie nur Bestürzung, Müdigkeit, Traurigkeit, Erschöpfung und Leid wider.

Sie haben viele intensive Porträts aufgenommen. Wie sind Sie mit Ihren Protagonisten in Kontakt gekommen?
Während der drei Wochen, die ich vor Ort war, konnte ich stabile Beziehungen aufbauen, die es mir erlaubten, am Alltag der lokalen Bevölkerung teilzuhaben. Zu Fotografieren dauert nur den einen Moment, in dem ich versuche, das Gesehene festzuhalten. Viel wichtiger ist die Zeit, die man aufbringt, den Menschen nahe zu kommen: der menschliche Aspekt der Beziehung, die man geduldig aufbauen muss, um dann mit gegenseitigem Vertrauen arbeiten zu können.

Welchen Eindruck haben die Menschen auf Sie gemacht?
Sie haben den intensiven Wunsch, auf ihrem Land in Frieden zu leben.

Nach welchen Kriterien haben Sie die elf Orte, in denen Sie gearbeitet haben, ausgewählt?
In erster Linie wollte ich das Leben dort theoretisch vollständig erfassen, um dann in der Lage zu sein, eine Geschichte auf effiziente Weise zu erzählen. Im Nachhinein muss ich heute aber feststellen, dass meine Arbeit noch unvollständig ist und ich auf jeden Fall noch einmal dorthin muss. Aus Zeitgründen und wegen der Genehmigungen konnte ich mich beispielsweise nicht mit dem Leben der Bergleute befassen, die Tag für Tag immer noch in Bergwerke hinabsteigen, die nur wenige hundert Meter von der Front entfernt liegen.

Was möchten Sie beim Betrachter auslösen?
Ich möchte zeigen, dass alle Menschen, die dort, so nahe bei uns, leben, wirklich dabei sind, vergessen zu werden.

Welche Kameras haben Sie verwendet?
Eine Leica Q. Sie ist effizient und diskret, macht keine Angst, wenn man aus nächster Nähe arbeitet, und vor allem erlaubt mir ihre Ergonomie, sehr schnell zu agieren. Alle Einstellungen sind einfach zu bedienen. Wenn man sich mit dieser Art von Themen beschäftigt, ist das ein zusätzlicher Vorteil, der ganz erheblich ist.

Was haben Sie auf dieser Reise gelernt? Was wird Ihnen auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben?
Man kehrt von jeder Reportage etwas verändert zurück, durchdrungen von den Situationen, die man erlebt hat. Der Kopf ist voll von kraftvollen Momenten, die einen manchmal auch noch nachts verfolgen. Ich bin mir bewusst, dass die Arbeit als Zeuge vermutlich keine große Sache ist, wenn man das Ausmaß einer schwierigen humanitären Situation und der Lösungen bedenkt, die zur Lösung des Konflikts gefunden werden müssen. Doch alle, die mir einen Moment ihres Lebens gewährten, taten es in Demut und Aufrichtigkeit; zweifellos auch in der Hoffnung, dass es ihnen helfen möge … Ich teile diese Hoffnung!

Was war aus fotografischer Sicht die größte Herausforderung?
Nicht von intensiven Erlebnissen überwältigt zu werden und aufmerksam zu bleiben, um meine Fotografie verwirklichen zu können. Und sich stets die Frage „Okay, worüber möchte ich sprechen und wie möchte ich es vermitteln?“ beantworten. Ich hoffe, dass ich das erreicht habe.

Jacques Pion wurde für seine Arbeiten häufig ausgezeichnet, etwa 2016 mit dem Preis für die beste fotografische Reportage des Jahres bei Les Photographies de l’Année France für seine Feldforschung in Idomeni, Griechenland, oder 2018 mit dem Preis der Fondazione Forma per la Fotografia, Mailand. Seine ausdrucksstarken Arbeiten erstrecken sich auch auf urbane Landschaften, in denen er das Spiel von Licht und Schatten auf poetische Weise interpretiert. Pion lebt in Mailand und wird von der Agentur Hans Lucas, Paris, vertreten.

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