Jakutsk ist die kälteste Stadt der Welt und bildet den Set für die Serie von Jakob Schnetz. Ob Militarismus, Pelz, Gewalt oder Kälte – in seinen Bildern inszeniert er typisch westliche Klischees über Russland, und hinterfragt damit deren Echtheit. Eine Spurensuche zwischen Fiktion und vermeintlicher Realität.

Welche Herausforderung stellt Kälte für einen Fotografen dar?
Die Temperaturen in Jakutsk bewegen sich in den Wintermonaten, so auch im Februar als ich dort war, etwa zwischen -35 und -55 Grad Celsius, eine extreme Spanne, die stark von Winden, Luftfeuchtigkeit und anderen mikroklimatischen Faktoren abhängt. Als Fotograf stellt mich Kälte vor allem vor die Herausforderung, die Akkus der Kamera warmzuhalten: Ich habe die Ersatzakkus unter den Ärmeln aller Kleidungsschichten direkt auf der Haut gewärmt und im halbstündigen Rhythmus gewechselt, damit sie sich nicht zu schnell entladen und bei -50 Grad Celsius überhaupt funktionieren.

Wie leben die Menschen vor Ort mit dieser Kälte?
Ich habe in meinem halben Jahr in Russland gelernt, wie sehr Kälte auch eine Frage der Gewohnheit ist und der Fähigkeit, Temperatur, Dauer und Art des Vorhabens gut einzuschätzen und sich dann richtig dafür anzuziehen. Diese Kälte ist aus der Ferne irgendwie unvorstellbar und erzeugt sicher exotische Vorstellungen von Härte und Entbehrung. Jakutsk ist eine reiche Großstadt in der etwa 300.000 Menschen leben, sie hat eine große Kultur- und Filmproduktionsszene mit vielen Theatern und Kinos. Ich denke, dass gerade dieses kulturelle Programm enorm wichtig für die Stadt und die Menschen dort ist.

Sie haben in Tomsk studiert. Wie haben sich Ihr fotografisches Verständnis, Ihre Sichtweise dort verändert?
Als ich in Tomsk ankam, war alles neu für mich, ich war ja zum ersten Mal in Russland – und trotzdem fühlte sich vieles überhaupt nicht unbekannt an. Dieses trügerische Gefühl von Wiedererkennen hat für mich dann dazu geführt, meine Wahrnehmung und Motivation, etwas zu fotografieren, immer wieder zu hinterfragen. Aus diesem Prozess heraus ist dann auch diese Serie gegen Ende des Auslandssemesters entstanden.

Die Serie zeigt Menschen in ihrem Alltag, geht aber über klassische Reportagefotografie hinaus. Trägt sie eher symbolischen Charakter?
Der Bezug zur Reportagefotografie ist nicht zufällig gewählt, weil mit dieser Art der Fotografie immer auch ein spezielles Versprechen von Wirklichkeit verknüpft wird, das ebenso Thema der Serie ist wie westliche Vorstellungen und Stereotype von Mittel- und Ostsibirien. Die bildsprachliche Stilisierung, die in vielen Bildern stattfindet, war für mich eine Strategie, bestimmten Zeichen, Stereotypen und Klischees ein Attribut des „Gemachten“ zu verleihen.

Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Motive ausgewählt?
Meine Motive sind eine sicher unvollständige Gemengelage aus eigenen und populären westlichen Stereotypen und einer Mischung aus einer vermeintlich alltäglichen und künstlichen Welt im Bild. Ich habe nach Orten und Ereignissen gesucht, an denen Verknüpfungen zwischen den Punkten besonders deutlich sind, in Theatern und auf Filmsets, aber auch auf Spaziergängen, und habe dabei versucht, Inszenierungen so gewöhnlich wie möglich und beobachtete Alltagssituationen so künstlich wie möglich zu fotografieren. So wollte ich die vermeintlichen Grenzen bildsprachlich nivellieren. Ganz konkret bin ich zum Beispiel Stereotype im Kopf durchgegangen, etwa Pelze, Jagd, Provisorien, Öl oder Naturverbundenheit, und habe mir überlegt, wie sie sich ins Fotografische übersetzen lassen und wo ich sie finden könnte: in einem Escape Room, einem naturwissenschaftlichen Museum, auf dem Filmset eines Zombie-Films oder aber auch im Alltag.

Die Stereotype scheinen sich im künstlerischen Gesamtkontext aufzulösen, eher abstrakt und surreal zu sein …
Ich wollte diese Klischees und Stereotype, die ich ja auch in mir trage, einerseits als solche ausstellen und sie gleichzeitig als etwas (Re-)Produziertes und Vermitteltes beschreiben, das auch nicht statisch ist, sondern sich im Kontext anderer Bilder der Serie verändert. Insofern lösen sich manche der Klischees auf, verschwimmen oder gehen auf Bilder über, die eigentlich gar nicht in direktem Zusammenhang damit stehen – ein bisschen so, wie es meinen Annahmen über Russland auch in meiner Alltagswahrnehmung vor Ort erging.

Wie war Ihre Erfahrung mit der Leica M (Typ 240) in diesem Projekt?
Die Leica M, mit ihren Vorzügen einer Reportagekamera – robust, präzise, leicht und leise –war sehr gut für meine stundenlangen Spaziergänge in der Kälte geeignet. Sogar bei knapp -60 Grad Celsius hat sie noch problemlos funktioniert, auch weil ich sie durch ihre geringe Größe unter meiner Jacke tragen und bei Bedarf herausholen konnte. Ihr leiser Auslöser war perfekt für die Arbeit am Filmset.

Jede Ihrer Fotografien wirkt wie ein eigenes Kunstwerk, gibt es dennoch eine Verbindung zwischen allen Aufnahmen?
Auf den ersten Blick ist die Verknüpfung eine ästhetische, formale – denn bezogen auf den jeweiligen Mikrokontext haben einige Motive tatsächlich wenig miteinander zu tun. Sie eint jedoch die Makroebene der westlichen Klischees und Stereotype, die sie thematisieren – auch wenn diese teilweise widersprüchlich sind. Durch die zunächst vielleicht nicht greifbare Verbindung entsteht, so hoffe ich, eine Lücke oder Leerstelle zwischen den einzelnen Bildern, die dazu einlädt, gefüllt und hinterfragt zu werden.

Jakob Schnetz, Jahrgang 1991, studierte Fotojournalismus in Hannover und Tomsk. Derzeit studiert er Geschichte und Theorie der Fotografie in einem Master-Studiengang an der Folkwang Universität der Künste. Neben Arbeiten im Auftrag von Publikationen und Unternehmen arbeitet er vor allem an persönlichen Langzeitprojekten an der Schnittstelle zwischen journalistischen und künstlerischen Ansätzen, die sich vorwiegend mit den Schwerpunkten Ökonomie und Repräsentation auseinandersetzen. Zu seinen Kunden gehören unter anderen das Süddeutsche Zeitung Magazin, Dummy – das Gesellschaftsmagazin, Geo, Der Spiegel, Die Zeit, taz und Wired. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Jakob Schnetz auf seiner Webseite und in seinem Instagram-Kanal. Seine ebenfalls in Tomsk entstandene Serie Chronologie des Scheiterns ist in LFI 2/2018 erschienen.

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