Schon seit Jahren streift Joseph Michael Lopez durch die Straßen seiner Heimatstadt New York, zuletzt mit einer Leica MP. Die dramatischen Schwarzweiß-Studien, die er unter dem Titel Dear New Yorker veröffentlichte, fangen Motive ein, denen er unterwegs begegnete: das Absurde, das Poetische und das Skurrile. 2020 setzte er die Arbeit an der Serie fort, jetzt allerdings mit der Leica Q2 Monochrom. Im Interview spricht Lopez darüber, wie er seine Motive findet, wie sich sein Terrain während der Covid-Pandemie veränderte und wie die Q2 Monochrom seine Arbeit beeinflusst hat.

Sie haben einmal gesagt, dass die Fotografie Ihnen helfe, Ihr Verhältnis zur Realität zu überprüfen. Was ist Ihre größte Herausforderung beim Fotografieren?
Manchmal geht es mir nur darum, mich emotional zu lösen, aber ich stelle mir auch die Frage: Regt mich das, was ich sehe, dazu an, meine Beziehung zur Realität zu überdenken? eine starke Fotografie bewirkt das für mich. Eine andere Art, diese Frage zu beantworten, wäre zu sagen, dass ich glaube, die Ergebnisse eines langen Schaffensprozesses können Auskunft über das Unterbewusstsein geben. Eine über lange Zeit ausgeübte Praxis gibt mir den Raum, um das Innere und Äußere auf vielen Ebenen zu überprüfen.

Wie stoßen Sie auf Ihre Geschichten?
Es ist ein innerer Prozess, der nach außen kanalisiert wird. Ich glaube, man muss etwas von sich selbst preisgeben, wenn man fotografiert. Zu fotografieren ist für mich auch ein Bewältigungsprozess. Es ist eine Besessenheit für die Komposition, den Blickwinkel, die Arbeit aus dem Bauch heraus und mein Selbstbewusstsein. Ich sehe und spüre die Möglichkeit einer Geschichte fast überall.

Wie nähern Sie sich Menschen?
Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, mich frei zu bewegen, meine Instinkte zu nutzen, meine Ohren und Augen offen zu halten und Dinge zu entdecken. Ich bin mir immer meiner emotionalen und mentalen Räume bewusst, sie können Signale aussenden und beeinflussen, wie ich in der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Ihre Energie und Körpersprache müssen offen und klar sein, denn sonst haben Sie Probleme, wenn die Menschen auf Sie reagieren und sich von Ihnen und Ihrer Kamera bedroht fühlen.

Wann haben Sie Ihre Serie Dear New Yorker fortgesetzt, an der Sie schon viele Jahre arbeiten?
Mitte September 2020. Ich hatte beschlossen, zu fotografieren, wenn die Sonne gerade auf- oder unterging. In der Regel wanderte ich von der 57. Straße Richtung Süden und zog im Zickzackkurs durch die Stadt, bis ich eine Lichtsituation fand, die den Charakter einer Straße unterstrich. Manchmal musste ich warten, weil keine Menschen zu sehen waren. Ich fuhr auch mit dem Auto durch Queens und suchte nach Ansichten von Midtown Manhattan. Diese Arbeitsabschnitt endete etwa Mitte Oktober.

Wie hat sich nach Ihren Beobachtungen das Leben auf der Straße während der Pandemie verändert?
Es ist dramatisch anders. Ich vermisse es wirklich, mit Fremden zu reden. Die Menschen sind generell zurückhaltender, es sind viel weniger unterwegs und es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Es ist manchmal sehr trostlos, und viele kleine Geschäfte haben für immer geschlossen. Ich beobachte viel mehr Verzweiflung und Obdachlosigkeit als je zuvor in der Stadt.

Sie beherrschen den Umgang mit Licht und Schatten, Sonnenstrahlen und Nebel. Was bedeutet Licht für Sie?
Licht ist alles: metaphorisch, buchstäblich, technisch – ohne Licht gäbe es keine Fotografie. Ehrlich gesagt, wenn die Sonne nicht scheint, kann mich das ziemlich schnell deprimieren: „Lopez sieht und benutzt das Licht als Befreier … um die Dunkelheit vom Tod zu befreien, um dem Licht das Mysterium zu geben, das ihm als Naturgewalt zusteht … und um seine großen emotionalen und tiefgründigen Anliegen über das Leben und das Sehen selbst zu beleuchten. Er ist einer der besten.“ (Larry Fink)

Ihr Umgang mit dem Licht ist sehr dramatisch, sehr poetisch. Es lebt von harten Kontrasten und verleiht Ihren Bildern einen Stil und ein Gefühl von Kino. Was ist Ihr Sinn für Dramatik und Poesie in der Fotografie?
Für mich ist die Fotografie ein haptisches Medium. Alles kommt aus meiner inneren Ordnung heraus, indem ich Emotionen und Fragen in die Komposition einbringe. Ich habe eine Vorliebe für Bewegung, mit einer unbeschreiblichen Leidenschaft für die Arbeit mit der Kamera und das Erzählen von Geschichten. Generell bin ich sehr inspiriert vom Kino, seiner Geschichte, dem Film noir etc. Kürzlich war ich sehr beeindruckt von der cineastischen Umsetzung des Spielfilms The Lighthouse, ein psychologischer Horror-Thriller von Robert Eggers. Der Film war wie der Besuch eines anderen Planeten, mit Anklängen an Fritz Lang. Kürzlich habe ich als Director of Photography an einem Dokumentarfilm meiner Frau gearbeitet, der jetzt in der Postproduktion ist. Ich habe beim Purimfest 2018 auch selbst einen Kurzfilm mit Robert Frank und Freunden aus New York gedreht, er befindet sich jetzt in der Postproduktion.

Offenbar verwenden Sie keinen Blitz. Die Art und Weise, wie Sie das verfügbare Licht nutzen, ist sehr treffend und setzt den Fokus auf bestimmte Themen. Außerdem wirkt es sehr kinematografisch.
Kinematografisch, das Wort das Wort gefällt mir. Ich denke, es beschreibt meinen Ansatz. Ich bevorzuge definitiv natürliches Licht. Ich bin wirklich glücklich damit, es ist die reine Freude. Jemandem einen Blitz ins Gesicht zu halten, finde ich absurd. Manchmal spielt meine Herangehensweise mit der Idee, einen Film auf der Straße zu drehen – das fordert mich heraus, mir vorzustellen, wo meine Kamera sein sollte.

Was hat Ihnen an der Leica Q2 Monochrom gefallen? Konnten sie mit der Kamera Ihre Bildsprache verbessern?
Die Q2 Monochrom war die erste digitale Schwarzweiß-Kamera, mit der ich fotografiert habe. Digital fotografiere ich sonst mit der M10-P und akzeptiere die Farbe einfach. Die Q2 Monochrom war also ein großer Sprung für mich. Ich habe den Crop auf eine Brennweite von 35 Millimetern verwendet, weil ich es gewohnt bin, damit zu arbeiten. Alle meine Aufnahmen für Dear New Yorker sind mit dem Summilux-M 1:1.4/35 ASPH. entstanden. In der Q2 Monochrom ist ein Summilux 1:1.7/28 ASPH. verbaut. Ich habe ein Orangefilter benutzt und das hat mich nicht enttäuscht. Alles war total scharf, keine Abbildungsfehler. Die Rohdaten der Q2 Monochrom waren phänomenal und die Mitteltöne einzigartig. Ich liebe die tonale Trennung von Himmel und Wolken mit dem Orangefilter. Ich bin begeistert. Das Kameradisplay habe ich als Messsucherersatz genutzt und die Fokussierung per Touch ausprobiert, eine große Neuerung für mich. Die Sensortechnologie der Q2 Monochrom hat mich davon überzeugt, es auch mit der M10 Monochrom zu versuchen.

Der Fotograf Joseph Michael Lopez, 1973 in New York geboren, begann seine Karriere als Kameramann bei Chop Suey (2001), einem von der Kritik hochgelobten Film von Regisseur Bruce Weber. Lopez war bis 2009 Autodidakt, dann bewarb er sich ohne Abschluss an der Columbia University und wurde als Kandidat für einen Master of Fine Arts angenommen, den er 2011 abschloss. Seine Fotografien erschienen unter anderem auf den Titelseiten der „Sunday Review of The New York Times“, des „New York Magazines“, des „New Yorkers“, von „M“ – dem Magazin für Leica M-Fotografie – und der LFI. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Joseph Michael Lopez auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

Joseph Michael Lopez: Dear New Yorker