Die Berge und Wälder an den Ufern der Donau sind bekannt für ihre dunklen Geheimnisse. Sie sind die Heimat der Walachen – eine Rumänisch sprechende ethnische Gruppe in Südosteuropa –, für die die Welt der Magie und Zauberei noch sehr lebendig und Teil ihrer Kultur ist: Muma Paduri, die „Mutter der Wälder“ wandert als Geist durch die Gegend und die Köpfe dieser naturverbundenen Menschen. Ausgerüstet mit seiner M (Typ 240) und einem Summilux-M 1:1.4/50 ASPH. begab sich Joan Alvado auf die Suche nach den Spuren der Mythen und fotografierte einen stimmungsvollen Fotoessay, der sich mit Fantasie und Suggestion beschäftigt. Mit uns sprach er über die Darstellung des Unbekannten und über die Manipulation der Vorstellungskraft.

Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen und wie haben Sie von den Walachen und ihrer Kultur erfahren?
Im Jahr 2019 war ich Artist in Residence in Belgrad. Diese Residenz war von keinerlei Vorschriften eingeengt. Ein befreundeter serbischer Kurator sagte mir, dass die Walachen in Ostserbien interessant für mich sein könnten. Ich erfuhr, dass walachische Frauen seit Jahrhunderten Zauberei praktizieren, viele ihrer Rituale seien mit bestimmten heiligen Orten in der Natur verbunden. Es war eine schöne Geschichte, sie hat mir sehr gut gefallen. Am Anfang dachte ich, dass das Thema Hexerei „dunkel“ sein würde, und vielleicht schwer zugänglich. Den Mythos der Muma Paduri kannte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Wann haben Sie die Serie fotografiert?
Ich habe im November und Dezember 2019 fotografiert, hauptsächlich in walachischen Dörfern in der Gegend von Kucevo und Majdanpek. Ich konnte recht schnell arbeiten, weil ich mit einem lokalen Anthropologen zusammenarbeitete, der sich auf walachische Magie spezialisiert hatte und sich sehr gut auskannte. Einige walachische Vereinigungen und Einheimische haben uns die Arbeit ebenfalls sehr erleichtert.

Berichten Sie uns über den Mythos, um den sich Ihr Projekt Muma Paduri dreht.
Die walachische Kultur beschreibt Muma Paduri als eine frauenähnliche, weiß gekleidete Gestalt, die sich in ein Tier verwandeln und in einer Sekunde mehrere Kilometer zurücklegen kann. Zwei Dinge haben mir an diesem Mythos besonders gefallen und brachten mich dazu, ihn in den Mittelpunkt der Serie zu stellen. Zum einen ist Muma Paduri für Teile der walachischen Bevölkerung immer noch sehr gegenwärtig. Das finde ich erstaunlich: Zahlreiche lebende Zeugen behaupten, sie gesehen oder Kontakt mit ihr gehabt zu haben; ich bin auf viele dieser Zeugnisse gestoßen. Zum anderen fand ich es für die Konzeption des Projekts sehr attraktiv, dass Muma Paduri überall in den walachischen Wäldern eigentlich jederzeit erscheinen oder wieder verschwinden kann. Sie war für mich wie ein wunderschöner Regenschirm, der die gesamte Natur und alle Orte in diesem Gebiet umschließt und sie mit einem Heiligenschein der Mystik umgibt. Das Gefühl, dass jeder einzelne Ort von ihrem Zauber berührt werden kann, hat mir wirklich sehr geholfen, in die Geschichte einzutauchen.

Muma Paduri ist ein Essay über die Magie und die Spiritualität der Walachen, in dem Sie, einem früheren Interview zufolge, unser Verhältnis zum Übernatürlichen hinterfragen. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Magie ist für mich ein Zweig eines größeren Baums: Sie ist eine der vielen Darstellungen des Unbekannten. Seit den frühesten Zeiten der Geschichte sind die Menschen mit Dingen konfrontiert, die weder mit dem damals verfügbaren Wissen rationalisiert, noch mit den fünf Sinnen erklärt werden konnten. Wie erklärt man diesen Bereich, der sich jeder möglichen Rationalisierung entzieht? Mehrere Zivilisationen geben Magie als eine der Antworten auf das, was nicht erklärt werden kann. Ich halte die spirituelle Welt der Walachen für unglaublich reichhaltig; dennoch ist sie eine konkrete Darstellung von etwas Größerem, Allgemeinerem. Wie gehen wir also mit dem Unbekannten um?

Wofür stehen die Vintage-Fotografien in Ihrer Serie?
Das sind Bilder, die ich besonders mag und die aus privaten Archiven stammen. Sie helfen, eine andere Art von Balance zu halten, die eine wichtige Grundlage dieser Arbeit ist: die Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wir sprechen über Glaubensvorstellungen, die uralt sind. Sie stammen aus der tiefen Vergangenheit und sind über Generationen hinweg lebendig geblieben. Wir sehen heute deutliche Spuren davon, wie sie immer noch in der Gesellschaft präsent sind. Ich schätze es, Parallelen zu ziehen und diese Linien durch die Zeit zu verfolgen. Dabei helfen mir die Vintage-Fotografien.

Wie herausfordernd war es, Spiritualität mit fotografischen Mitteln einzufangen?
Ein Charakteristikum dieser besonderen Geschichte ist der Wunsch, etwas zu studieren – und zu fotografieren! ¬–, das nicht wirklich da ist und nicht deutlich sichtbar wird. Egal wie tief man in die walachische Welt der Magie eindringt, einige Dinge, der Teufel, Muma Paduri, der Tod und die Unterwelt, können niemals direkt dargestellt werden. Dessen bin ich mir bewusst, und ich bin auch nicht wirklich an einer direkten Darstellung interessiert. Ich wollte, dass sich meine Fotografien ein wenig von der Realität abheben und die Grenzen der dokumentarischen Darstellung verschieben, um zu versuchen, über sie hinauszugehen.

Wie haben Sie das angestellt?
Es handelt sich um eine Geschichte, die eher auf Suggestion als auf Zeigen basiert … und ja, warum nicht, sie basiert auch auf Autosuggestion. Mir wurde klar, dass ich dieses Thema nicht aus der Sicht eines skeptischen Außenseiters bearbeiten wollte. Ich wollte mich denjenigen, die glauben, näher fühlen. Etwas sehr Wichtiges bei diesem Projekt war, dass ich viele Begegnungen hatte und Erfahrungen gemacht habe, die meine Arbeit stark beeinflusst haben. Ich habe viele Menschen getroffen, die behaupteten, Muma Paduri gesehen zu haben oder in irgendeiner Form Kontakt mit ihr gehabt zu haben. Es ist ein echter Glaube, nicht nur ein Mythos aus der Vergangenheit. Ich habe andere Personen getroffen, die angeblich Hexen waren, Menschen, die mir versicherten, dass sie Drachen am Himmel gesehen hätten oder Vampire. Viele Menschen haben Angst vor Praktiken der schwarzen Magie, und sie können Orte nennen, an denen sie stattfinden. Auf diese Weise war das Projekt für mich wie eine innere Reise.

Joan Alvado, 1979 in Altea, Spanien, geboren ist ein unabhängiger Fotograf, der derzeit in Barcelona lebt. Er konzentriert sich auf langfristige dokumentarische Projekte rund um das Konzept des Unerwarteten und versucht, mit visuellen Klischees und etablierten Stereotypen zu brechen. Sein Projekt Cuban Muslims, Tropical Faith brachte ihm 2016 den Fnac New Photography Talent Award in Spanien und einen Platz auf der Shortlist des Emergentes DST Awards beim Festival Encontros da Imagem ein. 2020 war sein Projekt The Last Man on Earth auf der Shortlist für die Kolga Tblisi Awards. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Joan Alvado auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

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