Die Alphabetisierungsrate in Indien liegt bei lediglich 74 Prozent. Der Zugang zu Schule und Bildung ist keine Selbstverständlichkeit. Seit Anfang 2021 beschäftigt sich Ulka Chauhan mit der Situation von Kindern aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten Familien. Über einen Zeitraum von vier Monaten hat sie mit der Leica M10-R ihre Serie A Thousand Dreams produziert – eine Hommage an den Aufbruchsgeist der Kinder.

Wie kamen Sie auf die Idee zum Projekt A Thousand Dreams ?
Seit 2013 leben meine beiden Töchter und ich nicht mehr im selben Haushalt. Jetzt ist das Leben ein ständiges Pendeln zwischen meinem Zuhause in Mumbai und ihrem Zuhause in Zürich. Nachdem ich im Jahr 2020 einige Monate bei ihnen verbracht hatte, kehrte ich im Januar nach Mumbai zurück und musste eine Woche in obligatorischer, beaufsichtigter Quarantäne verbringen. Eine Woche lang in einem Zimmer eingeschlossen zu sein, gab mir Zeit zum Nachdenken. Obwohl meine Situation frustrierend war, dachte ich darüber nach, wie frivol und unbedeutend meine Probleme waren. Meine Gedanken waren bei den weniger Glücklichen, deren bereits bestehende Probleme im täglichen Leben durch die aktuelle Krise noch verstärkt wurden. So entstand die Idee zu einer Geschichte über unterprivilegierte Kinder in Zeiten von Corona.

Warum heißt die Serie A Thousand Dreams?
Für diese Geschichte habe ich mich auf die Bildung von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen konzentriert. Kinder von Bauarbeitern, Hausangestellten, Straßenhändlern und Rikschafahrern, die in den Slums der Stadt oder in bescheidenen Häusern am Stadtrand leben. Es sind die Kinder von Tagelöhnern, die in der Anfangsphase der Pandemie mit Hunger, Migration und Verlust konfrontiert waren. Ich besuchte nicht nur ihre Schulen, sondern auch ihr Zuhause. Im Gespräch mit den Kindern wurde mir klar, dass sie trotz ihrer harten Lebensumstände große Ambitionen haben, was sie einmal werden wollen, wenn sie erwachsen sind. Ihre positive Einstellung und ihre Energie haben mich sehr bewegt, und der Titel A Thousand Dreams ist eine Hommage an ihren Ehrgeiz.

Ihre intensiven Bilder zeigen einen Schulalltag unter extremen Bedingungen …
Ja, mehrere Faktoren – wie Armut, Geschlechterdiskriminierung und Kastenunterschiede – machen die Alphabetisierung in Indien selbst in den besten Zeiten zu einer Herausforderung. Bei meinen Besuchen in den Schulen wurde mir klar, dass diese Kinder aufgrund des Mangels an Technologie und Internetverbindungen gar nicht die Möglichkeit haben, online zu lernen. Sie gehen sogar während der Corona-Zeit ins Schulgebäude, in dem sie sich aus Platzgründen nicht den Luxus sozialer Distanz leisten können.

Ist die Fotografie eine Art Bedürfnis, Hilfe oder sogar Unterstützung für Sie in diesen Zeiten?
Die Fotografie ist seit Mitte 2019 eine enorme Unterstützung für mich. Sie hat mir eine dringend benötigte Richtung, ein Ziel und einen Sinn gegeben. Sie hat mir geholfen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Sie war für mich ein Zufluchtsort in schwierigen Zeiten und ein sicherer Raum, um eine Vielzahl von Emotionen in Bezug auf Mutterschaft, Konflikte, Hoffnung, Liebe, Isolation und Widerstandsfähigkeit zu erkunden.

Was für eine Ausrüstung verwenden Sie?
Ich arbeite mit der Leica M10-R und vier Leica Objektiven (Summicron-M 1:2/28, Summilux-M 1:1.14/35 und 50 sowie das Elmarit-M 1:2.8/90 meines Vaters). Für dieses Projekt habe ich die 28er- und 35er-Brennweite verwendet.

Was hat Ihnen beim Umgang mit der Ausrüstung am meisten gefallen?
Ich hatte schon immer eine gewisse emotionale Bindung zur Marke Leica, da mein Vater ein großer Leica Fan war. Er hatte im Laufe der Jahre mehrere Leica M-Kameras. Als er starb, bekam ich seine letzte Leica, und das war der Zeitpunkt, an dem ich süchtig wurde. Die neue M10-R habe ich im September 2020 erworben. Ich schätze besonders, dass ich sie komplett manuell bedienen kann. Ich empfinde diese Philosophie der langsamen Fotografie als sehr achtsam und meditativ. Ich liebe auch die Art und Weise, wie eine Leica Licht und Farben wiedergibt. Sie hebt die Bildqualität auf eine ganz neue Ebene.

Was die technischen Aspekte betrifft, gab es da knifflige oder besondere Situationen?
Ja, die kleinen und dunklen Räume in einigen der Klassenzimmer und Wohnungen waren eine Herausforderung.

Wie war es, mit einer teuren Ausrüstung in Schulen zu fotografieren, in denen die technischen Möglichkeiten eher bescheiden sind?
In Indien ist man tagtäglich mit Ungleichheit konfrontiert, daran haben sich die Menschen auf beiden Seiten gewöhnt. Es war mir nicht unangenehm, mit einer teuren Leica Kamera zu fotografieren, denn ich wollte die Geschichten dieser Kinder festhalten, und ich bin sehr dankbar, dass sie hier im Leica Blog zu sehen und zu hören sind.

Nur 74 Prozent der indischen Bevölkerung können lesen und schreiben. Auf welche Weise könnten Ihre Fotos dazu beitragen, die Bildungssituation in Indien zu verändern?
Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Sie berührt die größere Frage, ob die Fotografie einen Wandel bewirken kann. Ja, ich glaube, dass die Kamera ein mächtiges Werkzeug ist, weil sie Geschichten zum Leben erweckt, die sonst nur gesichtslose Statistiken sind. Ich hoffe, dass A Thousand Dreams das Bewusstsein für die Probleme der Kindererziehung in Indien schärfen wird.

Was haben Ihnen die Menschen, die Sie getroffen haben, über ihre Situation und ihre Perspektiven erzählt?
Ich habe während der Dokumentation mit mehreren Personen gesprochen, darunter Leiter von Nichtregierungsorganisationen, Schulbesitzer und -direktoren, Lehrer, Eltern und die Schüler selbst. Was immer wieder auffiel, waren die Entschlossenheit, der Ehrgeiz und die Willenskraft dieser Kinder.

Wie beschreiben Sie Ihren fotografischen Ansatz?
Ich mag es, Licht, Farbe, Maßstab, Bewegung und andere Elemente so einzusetzen, dass ich ein gutes Gleichgewicht zwischen künstlerischer Gestaltung und Realismus finden kann. Ob ich nun Street- oder Dokumentaraufnahmen mache, ob in Indien oder in der Schweiz, ich habe großen Respekt und viel Feingefühl für die Themen und Geschichten, über die ich berichte.

Was zeichnet Ihrer Meinung nach ein „perfektes“ Foto aus?
Ein perfektes Foto ist eines, das mich bewegt.

Bitte vervollständigen Sie diesen Satz: Fotografie bedeutet für mich …
… die Welt zu erkunden und mich selbst zu entdecken. Wenn ich also die farbenfrohe und chaotische Welt Indiens oder die geradlinige und strukturierte Welt der Schweiz fotografiere, bringt mich die Fotografie meiner eigenen Stimme immer ein Stück näher. Das Objektiv blickt wirklich in beide Richtungen.

Ulka Chauhan pendelt zwischen Zürich und Mumbai. Ihre Leidenschaft für die Fotografie entfachte ein Fotoworkshop im Jahr 2019. Seither wurden ihre Arbeiten von den Redakteuren der LFI.Gallery als Master Shots oder Best in Category ausgewählt. Interviews mit ihr erschienen kürzlich im Blog von Leica Schweiz und in der Zeitschrift Pictorial List Arts and Humanities. Chauhan hat ihre Arbeiten in Gruppenausstellungen in Mumbai und Zürich ausgestellt und wird in diesem Jahr am Venice Photo Lab und am Treviso Photo Festival teilnehmen. Sie arbeitet unter der Anleitung von Mentoren für Dokumentarfotografie der Leica Akademien in Großbritannien und der Schweiz. Die Fotografin wurde in Mumbai geboren und studierte in Indien, der Schweiz und den USA. Sie hat einen Bachelor-Abschluss in Betriebswirtschaft vom Babson College in Boston. Bevor sie sich auf ihre fotografische Reise begab, war sie in der Werbung für Young & Rubicam und Rediffusion Y&R tätig. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Ulka Chauhan auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal.

Leica M

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