Auf einer großen Baustelle sucht Alessia Rollo nach Bildern für das Leben, denn das Leben selbst ist einer Baustelle nicht unähnlich. Neben ihrer Aufgabe, den Fortschritt der Bauarbeiten zu dokumentieren, nahm sie sich Zeit für ihr jüngstes persönliches Projekt mit dem Titel An Endless Day. Sie sprach mit uns darüber, wie das Projekt zustande kam, wie ein Autist ihre Wahrnehmung erweiterte und wie sie irrationale Aspekte der menschlichen Existenz in Metaphern übersetzte.

In An Endless Day geht es um ViaSilva, ein 2009 in Rennes gestartetes Stadtentwicklungsprojekt auf einer Fläche von 570 Hektar. Es handelt sich nicht um eine Reportage, sondern um einen visuellen Essay über die Veränderung der Landschaft. Wie sind Sie auf dieses Projekt gekommen?
Im Jahr 2019 wurde ich zu einer dreimonatigen Residenz in Rennes eingeladen, um ein Projekt über ViaSilva mit einem nicht streng dokumentarischen Ansatz zu produzieren. Leider musste ich meinen Aufenthalt wegen der Pandemie verschieben, aber im Juli 2020 gelang es mir, nach Rennes zu kommen. Seit vier Jahren lädt der Kulturverein Les ailes de Caïus jedes Jahr zwei Künstler ein, um über ViaSilva zu arbeiten: die eine für neun Monate mit dokumentarischem Ansatz und den anderen für einen kurzen Aufenthalt mit künstlerischem Schwerpunkt.

Woher rührt der Titel An Endless Day?
Daher, dass das Leben wie ein Arbeitsplatz ist: Es verändert sich ständig, es geht um Konstruktion, Dekonstruktion und Wiederaufbau. Ich habe das Gefühl, dass die zukünftigen Bewohner von ViaSilva diesen Wandel akzeptieren müssen, und das betone ich mit diesem Titel.

Sie haben dort Paul getroffen, er scheint eine zentrale Figur in Ihrem Projekt zu sein. Wie hat er Sie beeinflusst?
Ich habe Paul gleich an meinem ersten Tag in Rennes kennengelernt und war sofort fasziniert von seiner Art zu sehen. Sein Autismus eröffnete mir eine neue Art, die Realität zu lesen.

Wie hat Pauls Wahrnehmung Ihnen neue Perspektiven eröffnet?
Als ich anfing, mit Paul zu sprechen, merkte ich, dass er eine sehr tiefe und besondere Art hatte, die Realität zu betrachten und Gedanken zu formulieren. Ich war fasziniert, weil er in der Lage war, auf ganzheitliche Weise zu fühlen, über die Emotionen der Natur zu sprechen und den Zusammenhang zwischen dem Tod seiner Bäume und der Baustelle direkt dahinter zu verstehen. Ich habe Paul und seine Frau Helene häufig besucht, weil er mir einen anderen Blick auf ViaSilva ermöglichte. Abgesehen von der menschlichen Arbeit verstand ich, dass es eine natürliche, mächtige und geheimnisvolle Welt zu erforschen gab. So begann ich, eine Reihe von Bildern zu entwickeln, die die zyklischen und unendlichen Kräfte der Umwelt einfangen, unabhängig vom Menschen.

Welche Metaphern haben Sie für diesen Zweck gefunden? Die Lichtinstallationen sind etwas ganz Besonderes.
Ich wollte die Gegenwart mit der Zukunft verbinden, Orte und Strukturen aufzeigen, die verschwinden werden, und eine Vision davon entwerfen, wie diese Landschaft in naher Zukunft aussehen wird.

Sie zeigen Naturmotive, die manchmal verschwommen oder sehr dunkel sind, und Landschaftsausschnitte, in denen Sie bestimmte Gegenstände platziert haben. Was wollen Sie damit zeigen?
Ich versuche, die irrationale Seite, die Emotionen, die Ängste der Menschen vor Veränderung und Wandel zu verarbeiten. Im Gespräch mit den Bewohnern von ViaSilva – einer ländlichen Gegend, die in 15 Jahren das Zuhause von 20.000 Menschen sein wird – habe ich verstanden, wie sehr ihnen die Aussicht, ihren Lebensstil aufzugeben, Angst macht. Daher verwende ich die Nacht als Metapher für das Unbekannte, den irrationalen Instinkt und die Unschärfe für die Unfähigkeit, genau zu sehen, zu beobachten und zu unterscheiden, wenn wir eine emotionale Veränderung erleben.

Es gibt einige Bilder, die Elemente zeigen, die im Dunkeln leuchten – einige sind geometrisch, andere haben natürliche Formen. Was waren Ihre Gedanken dazu?
Als ich diese 570 Hektar große Baustelle betrachtete, versuchte ich mir vorzustellen, wie sie in 15 Jahren aussehen könnte, wenn alles fertig ist. Also beschloss ich, einige Lichtinstallationen zu schaffen, um ephemere Strukturen wie die Schotterberge und die Einschnitte im Boden zu unterstreichen oder um künftige Gebäude und Häuser, die in den nächsten Jahren hier entstehen werden, in der Landschaft zu platzieren. Für eines der leuchtenden Elemente habe ich mit meinem Residenz-Kollegen Francois Lepage zusammengearbeitet. Wir haben das Bild für mein Buchcover gemeinsam gemacht, um unsere beiden Projekte miteinander zu verbinden.

Sie haben auch Details wie Blätter oder Erde fotografiert. Wie haben Sie diese Aufnahmen in der Auswahl berücksichtigt?
In meinen Projekten mische ich gern dokumentarische Bilder mit inszenierten. Ich versuche immer, präzise Stilelemente zu finden, die zu dem Thema passen, an dem ich arbeite. Für ViaSilva habe ich zum Beispiel Reportagefotos verwendet, die den Ort selbst beschreiben, Bilder von der Natur, von Materialien, Porträts von Bewohnern und Arbeitern; gleichzeitig habe ich mehr metaphorische Bilder über Transformation und Angst inszeniert. Für das Buch An Endless Day habe ich die Bilder in Kapitel unterteilt, um eine Erzählung zu schaffen, die von der Realität ins Chaos führt. Für die Ausstellung, die im Juli in Rennes stattfand, bearbeitete ich die Fotos, um die Baustelle in ein visuelles Erlebnis zu verwandeln, indem ich auf verschiedene Materialien gedruckt habe, die an in ViaSilva verwendete erinnern.

Mit welchem Leica System haben Sie Ihr Projekt fotografiert?
Für An Endless Day habe ich eine Leica SL mit Vario-Elmarit-SL 1:2.8–4/24–90 ASPH., Summilux-SL 1:1.4/50 f/1.4 ASPH. und APO-Summicron-SL 1:2/35 ASPH. verwendet. Es ist fantastisch, dass diese Objektive so geschmeidig und lichtstark sind! Ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich mehr natürliches Licht verwendet habe. Es war ein Vergnügen, mit der SL zu fotografieren, die Objektive und der Dynamikbereich sind hervorragend. Sie erzeugen in verschiedenen Situationen jedes Mal eine so unterschiedliche Ästhetik, dass es einfach schade wäre, sie nicht zu nutzen.

Über welche zukünftigen Projekte können Sie hier schon sprechen?
Derzeit arbeite ich an Parallel Eyes, einem Projekt über Rituale und das kulturelle Erbe in Süditalien. Süditalien, von wo ich stamme, wurde in den 1950er-Jahren von einer Gruppe von Anthropologen, Filmemachern und Dokumentarfotografen untersucht, klassifiziert und beurteilt. Das Ergebnis dieses von Ernesto De Martino eingeleiteten Prozesses ist die Überzeugung, dass unsere Kultur eine rückständige, ignorante und völlig von Irrationalität und Religion beherrschte Subkultur ist. Parallel Eyes ist meine persönliche Erforschung der Kultur, der ich angehöre, der Rituale und der Denkweise einer Gesellschaft, die nie die Gelegenheit hatte, über sich selbst zu sprechen.

Die visuelle Künstlerin Alessia Rollo, 1982 geboren, schloss nach ihrem Grundstudium an der Universität von Perugia 2009 einen MA in kreativer Fotografie am EFTI International Center of Photography and Cinema (Spanien) ab. Sie hat einen MA in Publishing von der Universität Mailand. Für Rollo ist die Fotografie kein Medium, das eine Situation erklärt oder dokumentiert, sondern ein Medium, das eine Vielzahl von Metaphern erlaubt und die Wahrheit so erzählt, wie sie sie sieht. Rollos Arbeiten waren in Einzel- und Gruppenausstellungen in Spanien, Italien und Brasilien zu sehen und wurden unter anderem auf der Photo London, der Triennale di Milano, Unseen, PHest und dem Shangai Photofestival gezeigt. 2021 hat sie ihr viertes Buch, An Endless Day, veröffentlicht. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Alessia Rollo auf ihrer Website und in ihrem Instagram-Kanal. Finden Sie den Eintrag im Leica Blog zu ihrem Projekt The Matter hier.

Leica SL2

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