Fotografin und Regisseurin – oder Regisseurin und Fotografin? Eine Festlegung auf ein kreatives Feld gibt es bei Franziska Stünkel nicht. Mit ihrer fotografischen Langzeitserie Coexist haben wir Franziska Stünkel bereits mehrfach vorgestellt. Jetzt ist ihr neuer Film Nahschuss nach ersten Präsentationen auf Filmfestivals auch in den Kinos angelaufen. In den letzten Wochen war sie ständig unterwegs und in über 20 deutschen Städten bei der Premiere dabei. Und mit der internationalen Promotion geht es gleich weiter – die Zeit für ein Gespräch hat Stünkel dennoch gefunden.

Die Produktion eines Kinofilms fühlt sich, verglichen zu einer fotografischen Serie, vermutlich wie ein Marathonlauf an – wie geht es Ihnen gerade?
Ich bin sehr glücklich und erleichtert, dass Nahschuss nach der langen Zeit der pandemiebedingten Kinoschließungen jetzt in den Kinos ist. Die gemeinsame Filmerfahrung des Publikums war für mich immer ein wichtiger Bestandteil des Projekts: der mögliche Gedankenaustausch, die Konzentration in einem Kinosaal. Es war sehr bewegend, überall gingen die Gespräche nach dem Film bis tief in die Nacht. Das Bedürfnis nach Wissens- und Erfahrungsaustausch war enorm.

Das liegt ganz sicher auch am Thema Ihres Films, bei dem es um die Todesstrafe in der damaligen DDR geht. Sie haben den letzten Fall recherchiert.
Ja, mit Nahschuss wollte ich einen Beitrag leisten, ein historisches Faktum ins Bewusstsein zu heben: Die Todesstrafe in der DDR, die damals strenger Geheimhaltung unterlag und den meisten Menschen bis heute nicht bekannt ist. Nach heutigem Wissen wurden in der DDR 166 Menschen hingerichtet. Ich empfinde Kino als einen wertvollen Raum für kollektives Erleben – gerade jetzt in einer Welt, in der es viele drängende und komplexe Themen gibt. Wir dürfen uns nicht wegducken! Die emotionale Kraft des Kinos kann helfen, Brücken in die Themen hinein zu bauen. Menschenrechte sind eines dieser wichtigen aktuellen Themen.

Was war der Auslöser, einen Film über die Hinrichtung von Werner Teske 1981 zu machen?
Tatsächlich war ein Foto von ihm der Auslöser. Es stammt aus dem Jahr 1980 – ein Dreivierteljahr vor seiner Hinrichtung. Er ist darauf 38 Jahre alt, es ist am Tag seiner Inhaftierung entstanden. Seinen Blick konnte ich nicht vergessen. Da begann meine Recherche. Nahschuss lehnt sich an seine Lebensgeschichte an.

Wie lange haben Sie an dem Projekt gearbeitet?
Insgesamt zehn Jahre. Parallel zu der Arbeit an meiner fotografischen Serie Coexist habe ich fast acht Jahre an dem Drehbuch gearbeitet. Ich wollte der Verantwortung dieses gewaltigen Themas gerecht werden und das bedeutete für mich, viel Zeit in die Recherche zu investieren, aber auch in die dramaturgischen Entscheidungen im Drehbuch.

Die Filmaufnahmen fanden dann 2019 statt?
Ja, gedreht haben wir im November und Dezember, kurz vor der Pandemie, unter anderem in der Haftanstalt Berlin-Hohenschönhausen und der früheren Stasi-Zentrale. Während des zweimonatigen Schnitts begann Corona. Die Fertigstellung des Films erfolgte dann in der Lockdown-Pause.

Im Film sind Sie ganz nah an der Hauptfigur, nicht nur erzählerisch, sondern auch mit dem Kamerabild – warum war Ihnen diese Nähe so wichtig?
Nahschuss sollte sich anfühlen, als würde ich einem Menschen gegenüberstehen und lange in sein Gesicht schauen. So lange, dass ich seine kleinsten Regungen kennenlernen kann. Dieses lange Hinsehen, das muss man aushalten. Doch das ist für mich der einzig mögliche Weg einander zu begreifen und die Komplexität unseres Handelns zu erspüren. So werfen sich zahlreiche Fragen auf, zum Beispiel über die freie Entscheidung oder politische Manipulation. Ich wollte, dass man die Fragen nicht von außen auf rein theoretischer Ebene beantwortet, sondern von innen, durch den Menschen. Das ist viel schwieriger, denn da spürt man Emotionen, Loyalitäten, Widersprüchliches.

Entspricht diese dichte Erzählweise Ihrem filmischen Ideal?
Ja, absolut.

Wie ist das Verhältnis von Realität und Fiktion in dem Film?
An einigen wesentlichen Stellen lehnt sich die Hauptfigur Franz Walter an das Leben von Werner Teske an. Das betrifft beispielsweise die Rechtsgeschichte, also Gerichtsprozess, Inhaftierung und Hinrichtung. Andere Teile des Films sind fiktiv. Wenn es keine autobiografischen Aufzeichnungen einer historischen Figur gibt, bewegt man sich mit der Darstellung der Gefühlswelt ja ohnehin im fiktiven Bereich. Das Ziel ist jedoch, so wahrhaftig wie möglich zu sein. Das ist wichtig.

Bei den Dreharbeiten haben Sie auch fotografiert. Die Bilder sind mehr als eine Dokumentation?
Ich habe meine Leica M10 immer dabeigehabt, sie hing an einem langen Gurt, so hatte ich die Hände frei, aber die Kamera immer griffbereit. Natürlich habe ich nicht während der Proben und des Drehs einer Szene fotografiert. Da bin ich ganz in der Regie. Dann zu fotografieren, wäre für mich ohnehin nicht interessant, denn das bildet ja der Film ab. Mich fasziniert fotografisch beispielsweise die Zeit unmittelbar nach den ganzen Takes, wenn die Intensität des Spiels noch geballt im Körper und der Seele der Schauspielerin oder des Schauspielers steckt. Oder das Eintauchen davor. Oder der Moment von Team und Schauspielern, kurz bevor die Klappe fällt. In der hohen Konzentration verbinden sich alle miteinander.

Schnell zu reagieren ist auch bei Ihrer Serie Coexist geübte Praxis …
Ja, ich stelle grundsätzlich keine Fotos. Ich bearbeite die Fotos auch nicht. Wenn ich für Coexist draußen auf den Straßen fotografiere, hebe ich die Leica immer nur ganz kurz für ein Foto. Vorher beobachte ich. Als Regisseurin beobachte ich sowieso intensiv, daher verwende ich die Fotokamera auf die gleiche Art – nur ganz kurz, im entscheidenden Moment. Geholfen hat mir meine Ausrüstung: Ich habe fast immer mit dem lichtstarken 50-mm-Noctilux an der M10 gearbeitet, da Nahschuss sich durch das Dunkel und die geringe Tiefenschärfe auszeichnet. Bei Außen-Drehs habe ich auch das 35er- und 50er-Summicron sowie an der Leica SL das Vario-Elmarit-SL 24–90 genutzt.

Was hat Sie beim Fotografieren besonders gereizt?
Es war das erste Mal, dass ich bei Dreharbeiten fotografiert habe. Das Großartige für mich war, dass der Prozess des Fotografierens mich oft zusätzlich als Regisseurin fokussiert und mir gute Impulse gegeben hat. Man drückt ja erst auf den Auslöser der Fotokamera, wenn man glaubt, eine Verdichtung gefunden zu haben. Ein Foto zeigt eine Essenz. Es versucht das Wesen und das Wesentliche abzubilden. Das will auch ein Film. Das Forschen danach konnte ich auch beim Fotografieren fortsetzen. Daher war es für mich kein getrenntes Nebeneinander von Regie und Fotografie, sondern ein wertvolles, organisches Miteinander.

Wie sehen Ihre nächsten Pläne aus? Steht die Fotografie oder der Film im Mittelpunkt?
Beides. Film und Fotografie sind mir zu gleichen Teilen wichtig. Ich möchte weiter allein mit meiner Leica unterwegs sein und an Coexist arbeiten, aber ich möchte mich auch auf ein neues Filmprojekt einlassen.

Zunächst einmal gute Erholung und viel Erfolg weiterhin!
Vielen Dank. Im Oktober geht es schon direkt weiter in die USA zur Internationalen Premiere von Nahschuss auf dem Chicago Film Festival.

Bio:
Die Fotokünstlerin und Filmregisseurin Franziska Stünkel wurde 1973 in Göttingen geboren. Nachdem sie in der Filmklasse und in der Fotokunstklasse an der Kunsthochschule Kassel sowie an der Hochschule für Bildende Kunst Hannover studierte, wurde sie Meisterschülerin bei Prof. Uwe Schrader. Ihre fotografischen Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet; die seit über zehn Jahren verfolgte fotografische Serie Coexist zeigt ihre weltumspannende Suche nach friedlicher Koexistenz. Nahschuss ist in über 100 Kinos angelaufen, hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Förderpreis Neues Deutsches Kino für das beste Drehbuch auf dem Internationalen Filmfest München 2021 sowie den One Future Preis für die Regie, ebenfalls auf dem Filmfest München 2021. Nahschuss hat von der deutschen Filmbewertungsstelle das Prädikat „Besonders wertvoll“ erhalten. Nahschuss wurde in die Wettbewerbssektion „New Directors Cinema“ des 57. Internationalen Chicago Film Festivals eingeladen und feiert am 15. Oktober in Chicago seine Internationale Premiere. Danach folgt eine internationale Festivaltour.

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