Erst der Vergleich mit den rund 100 Jahre alten Motiven macht die Tragweite des Rückzugs der Gletscher Patagoniens sichtbar. Wer tiefer unter die Oberfläche blickt, erfährt, dass die Auswirkungen der Mensch gemachten Massenverschiebung längst die Neigung der Erdachse beeinflusst und unsere Welt buchstäblich aus den Angeln hebt. Alfredo Pourailly zog mit seiner Leica SL2 an Orte, die bisher kaum ein Mensch betreten hat. Im Gespräch schildert er seine Erfahrungen und sein Engagement.

In Ihrem aktuellen Projekt dokumentieren Sie den Rückgang der Gletscher Patagoniens anhand gut 100 Jahre alter Vergleichsaufnahmen. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Alles begann mit meiner Faszination für das geheimnisvolle, schöne und unzugängliche Patagonien mit seinen entlegensten Inseln, dem Feuerland-Archipel südlich der Magellanstraße. In den ersten Jahren meines Studiums beschäftigte ich mich mit den Büchern von Francisco Coloane. Seine starken lokalen Geschichten zogen mich in ihren Bann. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben und ich beschloss, nach Feuerland und in die entlegensten Winkel Chiles zu reisen. Ich landete in Puerto Williams, der südlichsten Stadt der Welt, voller Fjorde, Berge und Gletscher. Damals beschloss ich, mich der Dokumentarfotografie und dem Filmemachen zuzuwenden, immer auf der Suche nach sozialen und ökologischen Geschichten. Jahre später kam ich mit der Fotoarbeit von James Balog in Berührung und war wie besessen von der Idee, ein Jahrhundert in dieser wilden Landschaft zu porträtieren. So wandte ich mich an Cristian Donoso, einen der größten chilenischen Entdecker. Gemeinsam starteten wir 2017 das Projekt mit Unterstützung der nationalen chilenischen Fotografieförderung und produzierten unsere erste Serie von Vergleichsfotos.

Warum widmen Sie sich diesem wichtigen Thema?
In erster Linie ist es meine Leidenschaft, das Feuerland-Archipel zu erforschen. Insbesondere das Projekt Ice Postcards führt den Menschen die Auswirkungen des Klimawandels vor Augen, da es auf sehr einfache Weise die Veränderung der Landschaft und natürlich den Rückzug der Gletscher zeigt. Es ist ein einfaches Erzählen einer komplexen Geschichte. Was wir in Santiago oder in Nordamerika, in Europa, Afrika oder Asien tun, hat Auswirkungen auf den gesamten Globus, einschließlich der Antipoden.

Fokussieren Sie bei Ihren Bildern stärker die ästhetische Umsetzung oder den dokumentarischen Charakter?
Das hängt von dem Projekt ab, an dem ich gerade arbeite. Aber ich denke, es ist immer eine Kombination aus beidem. Wenn es sich um Dokumentarfotografie handelt, habe ich das Gefühl, dass die Geschichte, die man darstellt, das wichtigste Thema sein könnte. Aber man kann diese auf so viele Arten erzählen: Verwende ich Farbe oder Schwarzweiß, ein Stativ oder eine Handkamera? Nutze ich Weitwinkel- oder Teleobjektive? Gehe ich nah an die Szene heran oder gehe ich zurück? Soll ich mit den Personen interagieren oder nicht? Wie eng soll die Beziehung zwischen Fotograf und Motiv sein? Jede Entscheidung führt am Ende zu einem anderen Ergebnis und damit zu unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen und unterschiedlichen Interpretationen dieser realen Geschichte. Im Fall von Ice Postcards ging es um den Dialog zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Schon die Auswahl der Archivfotos war Teil einer ästhetischen Auseinandersetzung und Umsetzung des Themas. Stellen Sie sich mehr als 10.000 Fotos vor – welche würden Sie verwenden, um Ihre Geschichte zu erzählen?

Ihre Bilder werden die Betrachter für das Thema Klimawandel sensibilisieren. Denken Sie, es wird über den Aufschrei hinaus auch eine aktive Verhaltensänderung bei den Menschen bewirken?
Das Projekt zielt sicher darauf ab, das Bewusstsein zu schärfen, und ich glaube, das tut es auch. Es macht uns zu Zeugen dessen, was an einigen der wildesten Orte der Erde in Bezug auf den Klimawandel passiert. Und indem wir Zeugen sind, sind wir daran beteiligt und aufgerufen aktiv etwas zu verändern. Manchmal vergessen wir, dass unser Handeln Auswirkungen auf die Umwelt hat, nicht nur dort, wo wir leben. Wir sind eine egozentrische Gesellschaft geworden, die so tut, als gehöre uns, was uns umgibt. Aber wenn man in einer rauen Umgebung wie Feuerland ist, ohne jeglichen Komfort und jegliche Technologie, wird einem klar, dass man nichts besitzt und nur ein kleines menschliches Wesen ist.

Für Ihre Bilder der Gletscher Patagoniens haben Sie eine intensive Recherche betrieben und große Strapazen auf sich genommen.
In der Tat haben wir zusammen mit Cristian Donoso intensiv recherchiert, um diese alten Gletscherfotos zu finden, die wir neu aufnehmen wollen. Wir sind in ein Archiv mit mehr als 10.000 Fotos im Maggiorino Borgatello Museum in Punta Arenas „eingetaucht“ – mit der großartigen Unterstützung von Salvatore Cirillo, dem Direktor des Museums, das die Alberto-De-Agostini-Sammlung besitzt. Es war so erstaunlich, über das Licht nachzudenken, das vor einem Jahrhundert auf die Original-Glasplatten fiel. In gewisser Weise sind diese Glasplatten nicht nur ein Foto, sondern auch ein Teil dieser Vergangenheit, da das echte Licht von damals dort physisch konserviert bleibt.
Ins Fotoarchiv zu gehen, klingt einfach, doch das ist es nicht, wenn die Fotos nicht nach Orten katalogisiert, die Orte ziemlich weit weg und nur über das Meer erreichbar sind. Unsere früheren Expeditionen in diese Regionen waren entscheidend, um zu verstehen, wo die Archivfotos aufgenommen worden waren. Es war auch hilfreich und wichtig, die Notizen der alten Entdecker zu lesen, die uns Hinweise gaben, wie wir uns der Landschaft nähern und wohin wir mitten im Nirgendwo gehen sollten, da dort überhaupt keine Wege existieren. Es gibt dort Hunderte von Gletschern und Tausende von Gipfeln, sodass es eine herausfordernde Aufgabe ist, einen Gletscher und die Berge zu identifizieren – nur mit einem 100 Jahre alten Foto ohne jegliche Katalogisierung. Dass wir das auf uns genommen, hängt einfach mit unserer Leidenschaft für diese Landschaften und die Wildnis dort zusammen. Es ist erstaunlich, dass es immer noch Orte gibt, an denen noch niemand gewesen ist, und in Patagonien und Feuerland gibt es jede Menge davon.

 

Wie haben Sie sich auf die Expedition vorbereitet?
Nachdem wir uns entschieden hatten, die Expedition zu machen, war es noch ein langer Prozess, fast zwei Jahre. Zwischendurch gab es Einschränkungen durch die Pandemie, unsere ursprünglichen Termine verzögerten sich, aber am Ende war es besser, da wir mehr Zeit hatten, Spenden einzusammeln. Ich teile den Vorbereitungsprozess in vier Phasen ein: Wenn man die Idee hat und entschieden, sie voranzutreiben, sich Ziele zu setzen und einen Arbeitsplan zu erstellen, um sie zu verwirklichen – das ist Phase eins. Die zweite besteht darin, die Idee in die Tat umzusetzen, indem man das Fundraising aufnimmt. Das ist sehr wichtig, denn hier finden Sie Ihre Partner, mit denen Sie sich auf dieses Abenteuer einlassen. Es geht nicht nur um das Geld, das wichtig ist, um die Kosten für eine so komplexe Logistik zu decken, sondern auch darum, gleichgesinnte Partner zu finden, die mit Ihnen zusammenarbeiten, um die Qualität Ihrer Arbeit zu verbessern und die Inhalte an das Publikum zu bringen, was das letzte und vielleicht wichtigste Ziel ist. Das ist eine anstrengende Arbeit, bei der man viel öfter „Nein danke“ als „Ich bin dabei“ hört. Bei dieser speziellen Expedition hatte ich das große Glück, vom Explorers Club den Rolex Explorer Grant für Entdecker unter 35 Jahren zu erhalten.
Die dritte Phase der Vorbereitung ist die Planung, darunter fallen alle Recherchen und die logistische Gestaltung der Expedition. Hier beginnt der Spaß. Wir analysierten viele Satellitenbilder und Tausende von Fotos aus dem Archiv von Alberto De Agostini, um die Orte zu bestimmen, die wir aufsuchen mussten. Wir könnten ein ganzes Leben damit verbringen, die Fjorde Patagoniens zu erforschen, und wir würden nie alles sehen. Daher war es wichtig, die Orte zu definieren, nach denen wir suchten, um das Beste aus unserer Zeit da draußen zu machen. Nachdem wir uns für die Orte entschieden hatten, begannen wir mit der eigentlichen logistischen Planung der Expedition, einschließlich der Auswahl der besten Ausrüstung für die Arbeit in einer solch unwirtlichen Umgebung. Die letzte Phase ist das körperliche Training, um stark genug für die Herausforderung des Alleinseins mitten im Nirgendwo zu sein. Ich habe drei Monate lang mit dem Kajak und Geländelauf trainiert, bevor die Expedition begann.

Glaciar Marinelli
Glaciar Marinelli

Welche Ausrüstung haben Sie benutzt?
Es war toll, bei diesem Projekt mit der Leica SL2 zu arbeiten. Wir waren in einer rauen Umgebung unterwegs, viel Feuchtigkeit, Regen und manchmal sogar Schnee. Wir waren weit weg von jeglicher technischen Unterstützung, also brauchten wir eine robuste Kamera, die den Elementen standhält, ohne Kompromisse bei der Bildqualität zu machen. Die Kamera-Ausrüstung ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Expedition. Wir haben die SL2 sowohl für Foto- als auch für Videoaufnahmen verwendet und die Ergebnisse sind wirklich erstaunlich. Die komplette Ausrüstung bestand aus zwei Leica SL2, einem Leica Super-Vario-Elmar-SL 1:3.5–4.5/16–35, einem Leica Vario-Elmarit-SL 1:2.8–4/24–90, einem Leica Apo-Vario-Elmarit-SL 1:2.8–4/90–280 und 16 Akkus. Wir haben auch einige Polarisations- und UV-Filter verwendet.

Die vor gut 100 Jahren aufgenommenen Motive sind natürlich analog entstanden. Ihre Bilder digital, was etwa eine direkte Kontrolle ermöglicht, ob sie die Szenerie richtig eingefangen haben. Macht es in der Herangehensweise einen Unterschied, ob Sie analog oder digital abreiten?
Analog oder digital sind unterschiedliche Werkzeuge, um das zu schaffen, was Sie wollen. Beide haben Vor- und Nachteile, je nachdem, wonach Sie suchen. Das ist eine technische und ästhetische Entscheidung. Technisch gesehen kann man mit der digitalen Technik natürlich sofort überprüfen, ob die Fotos so sind, wie man sie haben wollte. Das ist für mich eine großartige Sache, besonders wenn man an Orten arbeitet, die zu erreichen sehr teuer ist. Ich bin hinsichtlich der Ergebnisse nicht so ängstlich und das erlaubt mir, das Erlebnis zu genießen – ein wesentlicher Grund, das überhaupt zu machen. Andererseits bedeutet digital, dass man sein Material sichern muss, man braucht mehr Energie und manchmal kann das auch Kopfschmerzen bereiten. Ästhetisch gesehen, besitzt analog vielleicht eine romantische Ebene, die digital nicht hat. Aber am Ende geht es für mich nur darum, eine Geschichte zu erzählen und um die besten Werkzeuge dafür.
Dank der Unterstützung des chilenischen Kulturministeriums planen wir im nächsten Sommer eine Fotoausstellung in Chile. Wenn die Pandemie es zulässt, werden wir das Projekt in mehreren Städten präsentieren und uns mit den Menschen vor Ort austauschen.

Alfredo Pourailly ist in Chile geboren und aufgewachsen. „Meine Augen blieben an den Tausenden von Inseln im Süden Chiles hängen, die ein gewaltiges Labyrinth von Fjorden und die drittgrößte Eisfläche der Welt nach der Antarktis und Grönland bilden“, beschreibt er seine Faszination für die Natur und den Wunsch, soziale und ökologische Geschichten in diesem Gebiet zu finden. In den ersten Jahren seines Studiums beschäftigte er sich mit den Büchern von Francisco Coloane, Jahre später gaben der Film Chasing Ice und die Fotografien von James Balog den Impuls für sein Projekt. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Alfredo Pourailly auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

Leica SL2

Es ist Ihre Entscheidung.