Ein Leben zwischen Rentierfellen, Motorschlitten und der abendlichen Telenovela auf dem Flatscreen: Zorana Mušikić hat eine Nenzen-Familie in ihrem Alltag begleitet und mit der Leica M-10 das Zusammenspiel von Tradition und Moderne fotografiert.

Wie sind Sie auf die Nenzen-Familie gestoßen?
Während meiner ersten Reise nach Sibirien im Rahmen meiner Arbeit an Ghosts along the dead track, bei der ich dem Verlauf der Polarkreisbahn, der sogenannten Stalinbahn folgte, habe ich begriffen, wie kompliziert es ist, sich in der Tundra überhaupt fortzubewegen, dass in den wenigen frostfreien Monaten zwischen vielen Orten gar keine Verbindungen existieren, weil der Boden unbefahrbarer Sumpf ist – und viele Verbindungen nur als Eisstraßen existieren. Also habe ich meine nächste Reise für den Winter geplant und habe herausgefunden, dass die Nenzen in den Wintermonaten mit ihren Rentierherden südlich des Ob unterwegs sind und ihre Routen teils entlang der Polarkreisbahn verlaufen. Ich habe dann einen Fixer kontaktiert, der den Kontakt zu einer Familie hergestellt hat. Über ihn lief auch die Logistik, die Fortbewegung ist dort in der Gegend nur mit einem geländegängigen Spezialfahrzeug namens Trekol möglich, dass auch bei Schnee und Eis nicht schlapp macht. Mit dem Trekol sind wir von der nächstgelegenen Stadt zehn Stunden bis zum Treffpunkt gefahren, an dem uns Jurij, bei dessen Familie wir gewohnt haben, mit dem Motorschlitten abgeholt hat. Er hat mich dann mit ins Lager genommen, das aus sechs Chums, so heißen die Zelte der Nenzen, bestand, und ich habe für eine Woche im Zelt seiner Familie gewohnt – mit seiner Frau Jelena, dem kleinen Sohn Wladimir und seinen Eltern.

Wie ist es Ihnen gelungen, dass sich Ihre Protagonisten Ihnen gegenüber geöffnet haben?
Wir waren ja Tag und Nacht zusammen, da ist eine gewisse Intimität kaum zu vermeiden. Wir haben alle in derselben Chum gelebt, gegessen und geschlafen. Ich wurde direkt integriert, um bei einfachen Dingen zu helfen – Holz holen, Schnee schmelzen etc. Und da ich dann bei allem, was so an alltäglichen Arbeiten zu tun war, dabei war, konnte ich auch immer sehr gut fotografieren.

Wie sieht die Lebensweise der Nenzen aus?
Von allen indigenen Völkern Westsibiriens haben die Nenzen am erfolgreichsten ihre traditionelle Lebensweise, Sprache und Kultur bewahren können – gleichzeitig leben sie in einer Art „best of both worlds“. Sie haben eine ziemlich spannende Mischung aus Holz- und Motorschlitten, Motorsägen und Akkuschrauber, Satellitentelefone, in jeder Chum steht ein Flatscreen auf dem über Satellitenempfang russische Telenovelas laufen, die Suppe aus dem eben noch ganz traditionell mit dem Lasso eingefangenen und von Hand geschlachteten Rentier wird mit einer Fertigmischung „Kräuter der Provence“ verfeinert und unter der warmen Rentierfellbekleidung stecken Jeans und T-Shirt. Das Bildungsniveau der Nenzen ist hoch, alle Kinder kommen mit sieben Jahren ins Internat und viele machen höhere Schulabschlüsse und studieren. Und entscheiden sich dann, ob sie zurück in die Tundra gehen oder in der Stadt bleiben. Alle, außer den ganz Alten, kennen das Leben in der Stadt. Etwa die Hälfte der Kinder entscheidet sich für die Tundra, die andere bleibt in den Städten. Viele von ihnen gehen dann in die Politik oder in Institutionen und Unternehmen, um sich dort für die Rechte der Nenzen einsetzen zu können und dort eine Lobby zu haben. Der Bruder von Jurij arbeitet etwa bei Gazprom.

Was hat Sie im Alltag der Nenzen am meisten beeindruckt?
Die Gesellschaft ist extrem arbeitsteilig und es gibt kaum Freizeit, die Lebensbedingungen sind sehr hart, manchmal bei Temperaturen um 50 Grad minus. Mich hat sehr beeindruckt, dass das eben selbstgewählte Leben sind. Und ich hatte nicht damit gerechnet, dass der vierjährige Wladimir bei seinem nomadischen Leben in der Tundra genauso besessen vom Smartphone seiner Eltern ist und Kindervideos schaut und Spielchen zockt wie mein Sohn in Berlin. Oder dass es der größte Traum der älteren Tochter ist bei Voice of Russia angenommen zu werden.

Haben Sie eine Lieblingsaufnahme?
Ich liebe zum Beispiel das Bild des jungen Mannes, der das Kabel der Satellitenschüssel beim Graben im Schnee mit dem Spaten zerhackt hat, und nun die beiden Kabelenden betrachtet und überlegt, wie er das nur wieder in Ordnung bringen kann – denn in 15 Minuten beginnt die Telenovela und Jurijs Mutter war fuchsteufelswild, dass der Fernseher keinen Empfang hatte. Wir haben es dann gemeinsam zusammengefummelt und mit meinem Gaffa Tape isoliert – der Abend war gerettet.

Der Kontrast zwischen dem harten Weiß draußen und den eher dunklen Innenräumen war fotografisch sicher eine Herausforderung …
Ich war in der glücklichen Situation, die Reise mit einer Leica M10 unternehmen zu können, die so unglaublich lichtempfindlich ist und selbst bei hoher ISO-Zahl noch wunderschöne Bilder macht. Ohne diese Kamera hätte ich in der Chum eigentlich gar nicht fotografieren können, viele der Bilder sind mit ISO 6400 fotografiert.

Wie zufrieden waren Sie mit der Kamera?
Die M10 war perfekt für das Projekt. Ich war im April dort, als „nur“ 20 Grad minus herrschten – das hat der Kamera überhaupt nichts ausgemacht und auch die Akkus hielten richtig lange. Das hatte mir die größten Sorgen gemacht. Ich hatte mit extremer Helligkeit in der unendlichen Schneelandschaft ebenso zu tun wie mit krasser Dunkelheit und nur punktuellen Lichtquellen in der Chum. Mit der M10 konnte sowohl aus dem hellen Weiß immer noch genug Zeichnung herausholen wie auch bei ISO 6400 großartige Bilder machen. Dazu kommt, dass die Kamera sehr kompakt ist, ich glaube, das hat auch dazu beigetragen, dass man immer ein bisschen unter dem Radar läuft, anders als wenn man mit einer großen Spiegelreflex und dann noch mit einem dicken Teleobjektiv unterwegs ist. An Brennweiten hatte ich 35 und 50 mm dabei – Letztere ist meine Lieblingsoptik, gerade wenn man Menschen fotografiert, muss man wirklich nah heran – die Nähe oder Distanz zu den abgebildeten Personen wird sehr real übersetzt, das mag ich.

Bitte vervollständigen Sie: „Die Fotografie ist für mich …
… eine Chance. Ich glaube an Bilder als Katalysator von Narrativen, die sich zu einer neuen Realität formen.

Zorana Mušikić, 1976 in Bad Kreuznach geboren, studierte zunächst Grafik und Malerei, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur und Medien in Marburg. 2009 begann sie in an der Neue Schule für Fotografie Berlin ein Studium, das sie 2013 abschloss. Für ihre Arbeit als Fotografin erhielt sie zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, ihre Werke werden international ausgestellt. Mušikić lebt und arbeitet als freie Fotografin in Berlin und ist auch als freie Dozentin an der Neuen Schule für Fotografie tätig.

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