Im März 2019 besuchte Bruno Morais zwei Brüder, die isoliert in der schwer zugänglichen Bergregion im chilenischen Teil von Patagonien leben. Cochamó, die nächstgelegene Stadt, ist zwei Stunden von der Hütte entfernt, in der Arturo und Horaldo auf sich allein gestellt leben – mitten unter ihren Schafen. Der brasilianische Fotograf war eine Woche lang ihr Gast in dieser einfachen Umgebung, die buchstäblich meilenweit von der nächsten Manifestation der Zivilisation entfernt ist. Er sprach mit uns über die Herausforderungen dort und teilte seine Beobachtungen über ein abgeschiedenes Leben in der Natur.

Wie haben Sie die Brüder kennengelernt und wie ist daraus Ihr Projekt Shepherds of Patagonia geworden?
Ich traf Arturo und Horaldo durch den Freund eines Freundes, der ein Haus in dieser Region, die wirklich abgelegen und isoliert ist, gebaut hat. Ich reiste ins chilenische Patagonien, um Cristina [Anm. d. Red.: Marais’ Partnerin, die Fotografin Cristina de Middel] bei der Realisierung eines Projekts zu helfen. Als wir ankamen, waren wir überrascht von der Einfachheit ihres Lebens in perfekter Balance mit der Natur. Sie repräsentierten das von der westlichen Kultur projizierte Ideal des Hirten so gut, dass sich das wörtlich im Titel der Serie widerspiegeln sollte: Shepherds of Patagonia. Es geht um die Einfachheit ihrer Existenz.

Was sind Sie dorthin gelangt und vor welchen Herausforderungen standen Sie bei diesem Projekt?
Das Klima dort ist extrem kalt, die Region ist sehr bergig und man kommt nicht einfach mal von hier nach da. Wir sind mit dem Auto bis zur argentinisch-chilenischen Grenze gefahren und haben den Fluss, der die beiden Länder an dieser Stelle trennt, mit einer Fähre überquert. Den Rest der Reise haben wir in zirka zwei Stunden zu Pferd zurückgelegt. Wir wohnten in dem Haus der Brüder, ein einfaches Holzhaus, ohne Strom, kaum Möbeln und einem kleinen Holzofen zum Kochen und Heizen.

Wie war die Arbeit mit der Leica Q?
Es ist die vollkommene Kamera für die Projekte, die ich entwickle. Sehr schnell, diskret und leicht – perfekt für all die Ausritte und das Arbeiten an abgelegenen Orten.

Was inspiriert Sie, gibt es eine Verbindung zu anderen Kunstformen?
Oft kommen meine Bezüge aus dem Kino. Es hilft mir, in Erzählungen voll allegorischer Bilder einzutauchen, die ich später in meiner Arbeit verwenden kann. Dafür sind die Filmemacher Glauber Rocha und Eduardo Coutinho die besten Beispiele. Aber ich bin auch von einer Art populärer Ästhetik beeinflusst, die man in Brasilien als „gambiarra“, als Improvisation also, bezeichnen könnte.

Es scheint, als entwickelten Sie für jedes Ihrer Projekte eine neue visuelle Sprache. Für die Serie Inside Makoko haben Sie mit Collagen gearbeitet. Ihre Serie Excessocenus, für die Sie den Greenpeace Award 2016 erhielten, ist sehr konzeptionell, künstlerisch; Mama África in Schwarzweiß gehalten, mit ungewöhnlichen Winkeln und Nahaufnahmen. Inwiefern fordern Sie sich selbst heraus, für jedes Projekt eine bestimmte Bildsprache zu finden?
Sie haben Recht. Ich versuche zu experimentieren und eine Sprache zu finden, die dem Konzept des Projekts nahekommt und damit übereinstimmt. Mein Stil ist nicht wichtig: Wichtig ist, die Botschaft auf die beste Weise zu vermitteln. Es ist immer eine Herausforderung, weil man sich selbst neu erfinden und seine Komfortzone verlassen muss, um jedes Mal eine neue Formel zu entwickeln. Aber ich bin nicht in diesem Geschäft, um meine Fähigkeiten zu demonstrieren, sondern ich will Geschichten erzählen, von denen ich glaube, dass sie wichtig sind. Und um das zu tun, bin ich sehr glücklich, irgendeinen Stil zu opfern, der meine Arbeit vielleicht erkennbarer, aber weniger zugänglich für das Publikum machte.

Was sehen Sie grundsätzlich als größte Herausforderung in der Fotografie an?
Die größte Herausforderung besteht darin, weiterhin Projekte zu verwirklichen, die für mich relevant sind und die sich nicht an Agenden halten, die auf Marktanforderungen oder Trends reagieren. Ich glaube an das Potenzial der Fotografie, die Anliegen und Fragen, die ich habe, in einer so ungleichen und extremen Gesellschaft wie Brasilien anzugehen und zu teilen. Ich möchte gern humanistische Projekte realisieren, die Armut und Gewalt nicht romantisieren oder verklären.

Was ist in Ihren Augen das Besondere an der Serie Shepherds of Patagonia?
Es mag surreal erscheinen, aber die Favela, in der ich aufgewachsen bin, ist immer noch einigermaßen isoliert. Sie befindet sich in einem Nationalpark und so spürte ich von Anfang an eine Gemeinsamkeit zwischen den Hirten und mir. Es gab einen ganz besonderen Draht zwischen uns: Obwohl wir so unterschiedlich sind, haben wir es geschafft das, was uns verbindet, zu erkennen und interessante und bereichernde Gespräche zu führen.

Was hat Sie bei der Dokumentation des Lebens der beiden Männer am meisten beeindruckt?
Der Kontrast zwischen der Empfindsamkeit beider Brüder. Die Kultur der Region ist patriarchalisch und ich bemerkte, dass sich ihre Mutter, die nur männliche Kinder hatte, entschieden hatte, Horaldo näher bei sich zu haben und mit häuslichen Arbeiten zu beauftragen. Das lässt ihn oft als ungeeignet für die Feldarbeit erscheinen, aber er geht recht entspannt mit diesem Vorurteil um. Doch ich habe auch große Frustration gespürt, dass er seine Empfindsamkeit nicht immer zeigen kann.

Sehen Sie Shepherds of Patagonia als abgeschlossen an?
Überhaupt nicht. Viele Aspekte der Gefühlswelt dieser beiden Menschen brauchen mehr Zeit, um sie wirklich zu verstehen – etwa das heftige Patriarchat in der Region, die Isolation, ihre persönliche Geschichte und warum sie überhaupt dort leben. Es gibt ein paar Faktoren, die das Leben der beiden Brüder sehr interessant machen. Dabei möchte ich mich auf Horaldo mit seiner stärker weiblichen Empfindsamkeit konzentrieren. Aber dafür brauche ich mehr Zeit und ich hoffe, dass ich 2022 dazu komme.

Bruno Morais, 1975 in Rio de Janeiro geboren, wuchs in der Favela Mata Machado auf, die im „Dschungel von Tijuca“ liegt. Er studierte Geografie und Leibeserziehung an der Universidad Federal de Rio de Janeiro (UFRJ) und war sieben Jahre professioneller Volkstänzer. Er ist Aktivist der Escola Fotográfica da Maré, eine Fotoschule in einer der größten Favelas von Rio, die Lokalfotografen ausbildet, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Morais arbeitet an der Erforschung einer nicht-affirmativen dokumentarischen Sprache. 2009 hat er das Coletivo Pandilla gegründet, 2010 trat er der Agentur Imagens do Povo bei. Er hat in der Galeria 535, bei FotoRio, Paraty em Foco, Encontros de Fotografía de Tiradentes (Brasilien), LagosPhoto (Nigeria), San José Photo (Uruguay) und bei Encontros da Imagem (Portugal) ausgestellt. Erfahren Sie mehr über seine Fotografie auf seiner Website.

Leica Q

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