Die Straße ist ein Ort der Unberechenbarkeit. Menschen, Handlungen, Gesten: Man weiß nie, was passieren wird. Das reizt den Fotografen Robin Sinha. Die poetischen Bilder, die er in Städten rund um den Erdball gemacht hat, spielen mit Farbe und Licht und erzählen vom flüchtigen Moment und vom täglichen Leben auf der Straße.

Ihre Fotos wurden an ganz unterschiedlichen Orten aufgenommen – war das Zufall oder Absicht?
Im Grunde genommen immer Absicht. Es ist selten, dass ich mit meiner Kamera durch die Straßen laufe, ohne vorher die Zeit für Street Photography reserviert zu haben. Ich habe einige Reisen speziell für dieses Sujet unternommen, bei Reisen aus anderen Gründen versuche ich, mir die Zeit dafür zu nehmen.

Was fasziniert Sie an der Street Photography?
Am meisten ihre unberechenbare Natur. Natürlich kann man sich mit der Straße vertraut machen und vielleicht Muster erkennen, wie sich das Leben dort entfaltet, aber letztlich entzieht sich vieles der Kontrolle des Fotografen: welche Charaktere auftauchen, ihre Gesten, Handlungen und Interaktionen, das Licht etc. Mit zunehmender Erfahrung lernt man, das für sich auszunutzen. Offen für die unvorhersehbaren Momente zu bleiben, ist das, was mir am meisten Freude bereitet.

Worauf achten Sie bei der Wahl des Motivs?
Ich versuche, nicht zu viel über meine Motive nachzudenken. Wenn man in einem Genre der Fotografie anfängt, spürt man immer den unerbittlichen Druck, einen eigenen Stil zu etablieren. Nach meiner Erfahrung gilt aber: Je mehr man versucht, einen Stil zu erzwingen, desto weniger echt ist das Ergebnis. Ich finde es leichter, darauf zu achten, worauf sich mein Auge im Bearbeitungsprozess konzentriert. Dadurch werden mir meine visuellen Stile bewusster, wodurch ich wiederum beim Fotografieren besser informiert bin.

Welche fotografische Herangehensweise verfolgen Sie?
Es ist mir wichtig, die Menschen, die ich fotografiere, zu respektieren. Ich möchte nicht, dass sich Menschen unwohl fühlen. Ich führe beständig einen inneren Kampf, wenn ich auf der Straße fotografiere. Oft sehe ich Szenen, die mich anziehen; aber nachdem ich erwogen habe, ob ich die Aufmerksamkeit auf mich lenken könnte, gehe ich oft weiter. Im Laufe der Jahre habe ich versucht, meine Impulse und Reaktionen neu zu programmieren: Szene identifizieren, fotografieren, sich mit dem Ergebnis befassen (falls vorhanden) anstatt Szene identifizieren, erwägen zu fotografieren, weggehen. Damit das klappt, muss man den Prozess regelmäßig wiederholen, sonst schwindet allmählich das Selbstvertrauen.

Wie gehen Sie auf die Menschen zu, die Sie fotografieren?
Normalerweise trage ich die Kamera um den Hals, damit sie besser zu sehen ist. Früher habe ich den Tragegurt ums Handgelenk gewickelt und die Kamera seitlich gehalten, um weniger aufzufallen. Irgendwann begriff ich, dass das den gegenteiligen Effekt hatte: Ich schien etwas zu verbergen und das konnte Alarm auslösen! Die Kamera um den Hals zu tragen demonstriert, dass ich nichts verberge. Ich zeige mich als Person, die fotografiert, so dass die im Allgemeinen führt das dazu, dass mich die Menschen schneller akzeptieren und nicht so lange an mich denken.

Sie haben mit mehreren Kameras gearbeitet. Welche waren das?
Als Dozent der Leica Akademie habe ich jahrelang davon profitiert, mit der Leica M-Reihe zu fotografieren, normalerweise mit dem aktuellen Modell. Ich habe jede digitale M verwendet, persönlich besitze ich die analoge M6 und eine M10. Die hier gezeigten Bilder sind entweder mit der Leica M (Typ 240), der M10 oder der M10-P aufgenommen worden. Zuletzt habe ich mit der M10-R und natürlich der neuen M11 fotografiert. Für Street Photography gibt es in meinen Augen keine bessere Kamera als die M – egal ob analog oder digital. Der Messsucher ist nicht jedermanns Sache, aber wenn Sie den Prozess genießen und Ihr Können erhöhen, glaube ich, dass Sie letztlich dafür belohnt werden.

Wie haben sich die Kameras bewährt?
Die Leistung und die Ergebnisse all der digitalen M-Kameras, die ich schon verwendet habe, haben mich immer verblüfft. Im Laufe der Jahre hat sich natürlich die Technologie entwickelt und mit ihr meine Erwartungen. Aber nachdem die M10-R auf den Markt gekommen war, fiel mir die Vorstellung schwer, was sonst noch verbessert werden könnte. Dann kommt die M11, deren Innenleben mit über 50 Verbesserungen komplett renoviert wurde. Als Produktentwickler wäre ich eindeutig eine Fehlbesetzung! Das Aussehen der Kamera ebenfalls wichtig. Von dem ikonischen Kameradesign einmal abgesehen: Die M ist auch unglaublich diskret. Die Menschen sehen sie nicht als bedrohlich an und neigen daher nicht zu Abwehrreaktionen, wenn sie im Gedränge verwendet wird.

Was sieht Ihr fotografischer Prozess genau aus?
Im Allgemeinen ziehe ich es vor, Belichtung und Fokus manuell einzustellen. Die wichtigsten Gründe bestehen darin, die Gesamtkontrolle zu behalten und die Anzahl verpatzter Aufnahmen zu reduzieren. Ich fotografiere gern bei kontrastreichem Licht, wenn die Sonne tiefer am Himmel steht. Ich bestimme zunächst die grobe Belichtung, indem ich in den Blendenprioritätsmodus schalte, und sobald ich das richtige Lichtverhältnis habe, ist von da an alles manuell. Ich priorisiere eine kurze Verschlusszeit (mindestens 1/250 s) und eine geschlossene Blende für einen großen Schärfentiefenbereich. Da ich mit Objektiven mit manuellem Fokus fotografiere, kann ich mit einem breiten Fokus sehr kurzfristig auf etwas reagieren.

Ihre Serie zeigt Straßen auf der ganzen Welt. Aus dieser Sicht scheint es, als passiere überall das gleiche …
Sie haben Recht, und das zu erkennen, war für mich eine Art Heureka-Moment. Als ich anfing, Bilder zu vergleichen, die ich in verschiedenen Städten auf der ganzen Welt aufgenommen hatte, wurde mir klar, dass ich unabhängig vom Ort ähnliche Inhalte fotografierte. Früher hatte ich das Gefühl, dass ich reisen muss, um Street Photography zu betreiben. Diese Mentalität ist natürlich sehr einschränkend. Ich habe dummerweise ignoriert, was in meiner eigenen Nachbarschaft passiert. Es ist leichter, sich inspirieren zu lassen, wenn man an einem neuen Ort ist, da die Sinne geschärft sind, aber es dauert nicht lange, bis man eine neue Straße in seinem eigenen Hinterhof entdeckt!

Bedeutet „Straße“ für einen Fotografen auch „Leben“?
Street Photography bedeutet für mich Fotografie des Alltags an jedem öffentlichen Ort, ohne dass einzelne Elemente manipuliert oder inszeniert werden. Das ist es, was eine Aufnahme als Street Photography qualifiziert. In Hinsicht auf die Street Photography bedeutet „Straße“ für mich tatsächlich auch „Leben“. Ich glaube nicht, dass es einen besseren Ort gibt, an dem man sehen kann, wie sich das Leben entfaltet. Das zu fotografieren, ist faszinierend.

Der in Aberdeen geborene Robin Sinha zog 2003 nach London. Nach einem B.A.-Abschluss in Fotografie begann er in den Londoner Big Sky Studios zu assistieren. Bald darauf begann seine Karriere als freiberuflicher Fotograf. Sinha beschreibt seine Fotografie als „menschengetrieben“, er arbeitet in den Bereichen Porträt, Street und Dokumentation. 2009 ging er zu Leica UK, wo er in Teilzeit als Akademie-Ambassador und leitender Dozent für Fotografie-Workshops arbeitet. 2018 wurde Sinha für zwei renommierte Fotopreise nominiert, den Taylor Wessing Portrait und den Prize Portrait of Britain Award. Für Letzteren stand er 2021 erneut auf der Shortlist. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Robin Sinha auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

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