Aus Feuerland vertrieben, leben die Selk’nam heute weit von Patagonien entfernt. Ihre fast vollständig verschwundene Kultur wird als ausgestorben betrachtet: Heute suchen die Selk’nam nach ihrer wahren Identität. Der brasilianische Fotograf Marcio Pimenta machte sich auf die Suche nach Spuren dieser ethnischen Gruppe; gleichzeitig erzählt seine Serie davon, dass sich der Mensch nicht unbedingt als Teil der Natur versteht.

Wo liegt der Ursprung Ihres Projekts?
Lassen Sie mich zunächst darstellen, woher mein Interesse für dieses Thema rührt. 2007 zog ich nach Chile, um in Amerikanistik zu promovieren. Ich wusste fast nichts über das Land und Patagonien war zu weit weg für mich. Glücklicherweise teilten meine Mit-Doktoranden, Anthropologen, Geografen und Historiker, großzügig ihr Wissen über das Land, seine Kulturen und Herausforderungen mit mir. Als ich mich entschied, Fotograf zu werden, wusste ich, dass ich mein ganzes akademisches Wissen in meine Projekte einbringen müsste, wenn ich der Öffentlichkeit etwas Relevantes sagen wollte. Ich reiste durch ganz Südamerika, um die menschliche Präsenz im Hinblick auf Wasser, Energie und Nahrung zu dokumentieren. Anlässlich einer Einladung, die Arbeit von Klimaforschern in der Antarktis zu fotografieren, wurde mir klar, wie irrelevant wir alle für den Planeten sind. Niemand würde uns vermissen. Das weckte meine Neugierde darauf, wie das unglaubliche Abenteuer, das die Menschheit auf unserem Planeten erlebt hat, verlaufen ist. Während der Pandemie begann ich mit meinen Recherchen und ich fand einige Antworten auf meine Fragen in den Tagebüchern, die Charles Darwin während seiner Reise durch Patagonien geschrieben hat. Ich präsentierte die Idee dem Pulitzer Center on Crisis Reporting und es nahm das Projekt an. Schließlich öffnete Chile 2021 seine Grenzen wieder und ich konnte fotografieren, was mich am meisten interessiert: der Kampf der Kulturen.

Sie folgen den Spuren eines Volkes, das längst für ausgestorben erklärt wurde. Wie schwierig war es für Sie, überhaupt noch Spuren zu finden?
Obwohl alle ethnischen Gruppen in der Region faszinierende Geschichten haben, interessierte ich mich besonders für die Selk’nam, weil sie die einzigen waren, die als ausgestorben galten. Als ich Nachfahren kontaktierte, erfuhr ich, dass sie vor Gericht dafür streiten, dass der chilenische Staat ihre Existenz anerkennt. Es ist eine schwierige Zeit für sie. In den letzten zehn Jahren haben viele Selk’nam alle Anstrengungen unternommen, um die tragische Geschichte ihrer Vorfahren kennenzulernen. Noch heute wissen einige Einwohner Feuerlands nicht, dass sie von Selk’nam abstammen. Das Stigma des Todes ist so stark, dass die Selk’nam nicht indigen sein wollten: Die ethnische Zugehörigkeit nicht anzuerkennen, ist ein Weg, um zu überleben. Und so erklärten Akademiker, dass sie ausgestorben seien. Es gab lange Gespräche und umfangreiche Recherchen, während ich darauf wartete, dass Chile seine Grenzen wieder öffnet. Als ich endlich ankam, hatte ich das Glück, einige Selk’nam zu sehen, die zum ersten Mal ihre angestammte Heimat besuchten. Sie waren alle sehr aufgeregt.

Sind die Selk’nam ein eher zurückhaltendes Volk?
Misstrauisch, ausweichend und schweigsam – so lassen sie sich in unseren Online-Gesprächen am besten beschreiben. Aber als wir uns trafen, änderte sich alles. Als sie das Land ihrer Herkunft kennenlernten, waren sie von Zuversicht erfüllt. Sie lächelten und redeten ununterbrochen. Den Kontakt haben chilenische Freunde für mich hergestellt.

Was wollen Sie mit dem Projekt zeigen?
Ich möchte die Leser einladen, in die Zukunft zu blicken. Wohin steuert unsere Spezies? Bis zu einem gewissen Grad versteht sich die Menschheit nicht als Teil der Natur. Und das verstärkt sich, je weiter sich unsere Spezies entwickelt. Die Covid-Pandemie hat uns dazu verdammt, in unseren Behausungen zu bleiben. In dieser Zeit wurden vielen Arbeitern, die in in New York, Paris und Tokio leben, bewusst, dass sie nicht mehr als 15 überteuerte Quadratmeter Platz in ihrem Leben haben. Sonst waren sie den ganzen Tag bei der Arbeit, erledigten sich wiederholende Aufgaben, aßen Fast Food von zweifelhafter Qualität und kehrten nur zum Schlafen in ihre Verschläge zurück. All das widerspricht der Natur unserer Spezies. Wir haben körperliche Fähigkeiten verloren, die fantastisch waren. Die Ureinwohner Feuerlands ertrugen ihre feindliche und kalte Umwelt auch nackt. Da sie keine Sklaven der landwirtschaftlichen Revolution waren, hatten sie eine größere Auswahl an Nahrungsmitteln und einen Lebensstil mit anregenderen, weniger repetitiven Aktivitäten. Sie litten weniger unter Hunger und Krankheiten. Es gibt keinen Beweis dafür, dass wir heute schlauer sind.

Sie haben mit einer Leica M10 fotografiert …
Als ich 2018 meine Spiegelreflexkameras an den Nagel hängte, wusste ich noch nicht, dass der Wechsel zur Leica M10 meine Fotografie komplett verändern würde. Ich bin ruhiger geworden und widme Menschen und Landschaften mehr Zeit– der ganze Prozess wird durch den Messsucher zu einem großen Vergnügen. Das spiegelt die Grundhaltung wider, mit der ich heute arbeite: Einfachheit. Mich interessieren viele technologische Funktionen nicht wirklich, das Thema und die Menschen sind viel wichtiger. Die Leute scheinen sich auch wohler und sogar überrascht zu fühlen, wenn ich die Kamera aus der Tasche hole, um sie zu fotografieren.

Wie wichtig ist Ihnen das Thema Identität heute –¬ auch Ihre eigene?
Ich wurde in einer kleinen Stadt im Bundesstaat São Paulo geboren. Kurz nach meiner Geburt zogen meine Eltern nach Bahia, einem Staat im Nordosten Brasiliens, mit einer sehr reichen und völlig anderen Kultur und gaben mich zur Adoption frei. So wuchs ich weit weg auf, ohne Aussicht, je in diese kleine Stadt zurückzukehren. Im Jahr 2014 erhielt ich von National Geographic Brazil den Auftrag, über die Geschichte der größten Dürre in der Geschichte São Paulos zu berichten – und das Zentrum der Wasserknappheit befand sich zufällig genau in dieser Stadt. Als ich dort arbeitete, fragten mich die Leute „Woher kommst du?“ und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich antworten: „Ich bin von hier.“ Die Selk’nam, von den Kolonisatoren vertrieben und zur Adoption freigegeben, sind auf der Suche nach dem Wesentlichen: Anerkennung. Deshalb kämpfen sie dafür, dass der chilenische Staat ihre Existenz zur Kenntnis nimmt, damit sie eines Tages in das Land ihrer Herkunft zurückkehren und sagen können „Ich bin von hier“. Die Identität eines Volks ist das Ergebnis seiner Kultur, Politik und seines historischen Prozesses.

Ist Ihr Projekt auch ein Versuch, die Vergangenheit und Tradition zu bewahren?
Ich glaube, es ist ein weiterer Versuch, die Geschichte der Menschheit zu bezeugen.

Was bedeuten die Arbeit und die Begegnungen mit den Selk’nam für Sie?
Ich habe das Gefühl, dass sich mir eine neue Tür geöffnet hat. Ich möchte noch öfter dorthin zurückkehren. Ich habe das Gefühl, dass in den internationalen Medien nur wenig Licht auf die Geschichte Patagoniens und seiner Menschen fällt. Ich habe fast jeden Monat Kontakt zu ihnen. Und ich lerne weiter. Das ist die Arbeit, die ich schon immer machen wollte. Als ich dort ankam, merkte ich, dass ich vor enormen Herausforderungen stand. Im Moment bereite ich eine Expedition nach Patagonien und Feuerland mit meinem Jeep vor und brüte über Büchern und Kostenplänen.

Der Entdecker, Fotograf und visuelle Geschichtenerzähler Marcio Pimenta lebt im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Seine wichtigsten Schwerpunkte sind Menschen, soziokulturelle Themen, Identität und Klimawandel. Viele Print- und Online-Publikationen weltweit haben seine Arbeiten vorgestellt, darunter National Geographic, Rolling Stone, The Guardian, The Wall Street Journal, The New York Times und El País. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Marcio Pimenta auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.

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