Was bedeutet es, ein wahrer Gläubiger zu sein? Der kolumbianische Fotograf Juan Cristóbal Cobo untersucht das Konzept des Katholizismus in seiner Heimat und nahm beeindruckende Bilder von Gläubigen auf. Er hinterfragte die Bedeutung der Religion für die Menschen eines vorwiegend katholischen Landes, doch klare Antworten hat er nicht immer gefunden – was an der enormen Symbolkraft seiner Aufnahmen jedoch nichts ändert.

Wann sind diese Aufnahmen entstanden?
Ich habe sie 2017 und 2018 in den kolumbianischen Städten Bogotá und Cali fotografiert.

Was fasziniert Sie an religiösen Ritualen?
Als Fotograf fühle ich mich zu den Riten, Ritualen und Ikonen religiöser Institutionen hingezogen. Sie sind aus ästhetischer Sicht sehr verführerisch. Ich kann Stunden damit verbringen, Darstellungen von Christus am Kreuz oder den Schmerz von Maria Magdalena zu beobachten. Als Agnostiker kann ich jedoch die Bedeutung des Glaubens oder die Erfahrung einer emotionalen Verbindung zu Gott nicht verstehen. Ich kann mir nur vorstellen, was es bedeutet, ein wahrer Gläubiger zu sein. Ich möchte die Fotografie für den Versuch nutzen, die Kluft zwischen emotionalen und ästhetischen Elementen im Katholizismus zu überbrücken. Ich möchte, dass meine Kamera die ikonischen Symbole der Religion und die Menschen, die sie anbeten, erforscht, um die Konzepte von Schuld, Vergebung, Leiden und Erlösung besser zu verstehen, die es nicht nur in unseren Kathedralen, sondern auch auf den Straßen gibt. Ich möchte Ähnlichkeiten zwischen religiösen Bildern, sowohl gewalttätigen als auch himmlischen, und den Gemeindemitgliedern ziehen, die kommen, um zu beten, zu bekennen und für ihre Sünden zu büßen. Erleben diese Menschen das Leiden und die Erlösung religiöser Märtyrer am eigenen Leib?

Welche Bedeutung hat das Christentum in Kolumbien?
Kolumbien hat eine der am tiefsten verwurzelten Traditionen des römisch-katholischen Glaubens in Lateinamerika: Mehr als 80 Prozent Kolumbiens sind katholisch; es ist jedoch auch eines der gewalttätigsten Länder der Welt. Der World Values Survey zufolge sind die meisten religiösen Länder auch die gewalttätigsten – und Kolumbien hat eine lange Geschichte blutiger Konflikte. Sowohl die Aggressoren als auch ihre Opfer beten zu demselben Gott: die einen, die Schutz erbitten, bevor sie ihre Verbrechen begehen, die anderen suchen Trost für ihren Schmerz. Warum also leidet ein Land, in dem der Katholizismus eine so dominante Kraft in der Gesellschaft ist, immer noch unter den anhaltenden Wunden des Konflikts – Wunden, die sich einer Heilung widersetzen und eine ungewisse Zukunft ankündigen?

Ihre Bilder zeigen selten Gesichter, Menschen sind Teil der Szenerie, die sie umgibt. Was steht hinter diesem fotografischen Ansatz?
Ich glaube nicht, dass das eine vorsätzliche Entscheidung war; aber wie so oft bei meiner Arbeit beginnen sich, während ich fotografiere, nach einer Weile einige Themen und stilistische Entscheidungen abzuzeichnen und später dann auch in der Auswahl. In diesem Fall glaube ich, dass das Fehlen erkennbarer Gesichter in meinen Augen zu dem Mysterium beiträgt, das Religion für mich darstellt.

Haben Sie im Rahmen dieses Projekts nach etwas Bestimmtem gesucht oder sind Sie einfach Ihrer Intuition gefolgt?
Es geht mit Intuition los, dann erforsche ich ein Thema, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, und beginne dann, so oft wie möglich daran zu arbeiten. Dabei eröffnen sich Themen und Unterthemen, die ich dann einfach verfolge. Ich habe zwei Jahre hintereinander in der Karwoche an diesem Projekt gearbeitet. Zudem habe ich den Besuch von Papst Franziskus in Kolumbien dokumentiert und einige Sonntage in einer großen, sehr beliebten Pfarrei in Bogotá verbracht.

Wie haben Sie die Protagonistinnen und Protagonisten für Ihre Bilder gefunden?
Es war nicht schwierig: Ich ging einfach zur richtigen Zeit zu den Orten, an denen sie sich versammeln.

Haben Ihre Leica Kameras geholfen, Ihre Ziele zu erreichen?
Ich habe sowohl die Q als auch die M bei diesem Projekt eingesetzt. Beide Kameras sind sehr diskret und leise, was entscheidend war, als ich in Kirchen fotografierte. Das Equipment erlaubte mir, respektvoll gegenüber den Menschen zu bleiben, die ich fotografierte.

Haben Sie etwas aus Ihrem Projekt gelernt?
Ich bin an dieses Projekt mit meiner säkularen Intuition herangegangen, um mich mit meinen Ängsten vor der Religion und meinen Fragen über sie zu konfrontieren, indem ich die Gläubigen, ihre Rituale und Reliquien betrachtete. Das warf am Ende mehr Fragen als Antworten auf, aber damit bin ich einverstanden.

Wie gehen Sie bei der Suche nach neuen Themen vor?
Neugier. Es ist immer Neugier, die meine Arbeit antreibt, und es muss nicht immer ein Projekt sein. Ich werde von Menschen, Licht und Orten angezogen, und manchmal, wenn ich etwas verfolge, stolpere ich über einen Faden, der zu einem Projekt werden kann – oder auch nicht.

Juan Cristóbal Cobo, in Kolumbien geboren, zog als Teenager nach New York. Seine erste Leidenschaft galt dem Film, aber nach vielen Jahren als Kameramann und Werbefilmer war es die Kunst der Fotografie, die ihn anzog. Der Autodidakt bringt jahrelange Erfahrung in die Fotografie ein und verbindet sein Verständnis von Licht und Komposition mit einer Leidenschaft für die Geschichte. Cobo ist zutiefst neugierig auf die Menschen um ihn herum und bleibt neugierig auf sich selbst und die eigenen Emotionen, die er versucht, mit seinen Bildern zu verbinden. Cobos Arbeiten erschienen unter anderem in National Geographic, The New York Times, The Washington Post, Bloomberg Businessweek, Science Magazine, Art Magazine, Leica Fotografie International, New Yorker Photo, L’œil de la Photographie und The Ground Truth Projec. Er ist stäniger Mitarbeiter von National Geographic Traveler. Im September 2021 veröffentlichte er sein erstes Fotobuch La luz opaca. Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Juan Cristóbal Cobo auf seiner Website und in seinem Instagram-Kanal.