Derzeit ist das Arbeitspensum höher denn je: Die Ausstellung im Wiener Theatermuseum mit begleitendem Katalog will vorbereitet sein, weitere Buchprojekte sind geplant und auch das Archiv soll weiter gepflegt werden. Doch auch fürs Feiern wird Zeit bleiben, nicht nur bei der Ausstellungseröffnung, denn das Wiener Burgtheater widmet Christine de Grancy ebenfalls einen Abend. Dort wird ein neuer Band ihrer Theaterfotografien vorgestellt und insbesondere die große Geschichtenerzählerin geehrt. Am Burgtheater hat sie ihren ganz eigenen Stil der Theaterfotografie geprägt: unmittelbar, direkt, denn bei den Proben mischte sich die Fotografin zwischen die Schauspieler – und blieb dabei doch nahezu unbemerkt. De Grancy zählt zu den großen Fotografinnen unserer Zeit, als feinsinnige Beobachterin auf ihren vielen Reisen um die halbe Welt, aber auch als Chronistin ihrer Heimatstadt Wien. Dort hat sie insbesondere die Dachlandschaften erkundet und den vielen Figuren in ganz neuen Perspektiven eine bisher unbekannte Wahrnehmung geschenkt.

Seit rund 60 Jahren leben Sie in Wien, welche Quartiere sind Ihnen die liebsten?
Alles um den Ring. Teile der Innenstadt, insbesondere mein „Dorf“, der 7. Bezirk Neubau. Ich mag die sehr unterschiedlichen Bezirke Wiens. Wäre ich vermögend, würde ich gern am Ufer der Donau leben, mit diesem faszinierenden Strom verbunden sein wollen. Dieses wunderbare Symbol für das ewig Fließende, das sich ewig verwandelnde Leben.

Wie haben Sie die Veränderungen der Stadt erlebt?
Mit dem Zertrennen des Eisernen Vorhangs an der ungarischen Grenze wurde schnell spürbar, wie sich Wien verändert. Die Stadt wurde in jeder Hinsicht offener, jünger, lebendiger. Die Trennung zum Osten hin tat Wien – ebenso wie Berlin – schon lange nicht gut. Tat Europa nicht gut. Michail Gorbatschow hat diesen Glücksfall ermöglicht. Die Nachfolgenden haben das Haus Europa leider nicht gepflegt. Der Krieg nebenan zeigt heute auf, was sträflich versäumt wurde. Wir brauchen aber diesen offenen Raum, mit oder ohne Gas, menschlich, kulturell, wirtschaftlich.

Wien spielte für Ihren Weg in die Fotografie eine wichtige Rolle?
„Geknipst“ habe ich bereits seit meinem 14. Lebensjahr. Während meiner Arbeit als Art-Direktorin wuchs das Interesse an der Fotografie über die Jahre immer weiter. In Wien habe ich bereits in den 1960er-Jahren alte Geschäftslokale mit ihren bunten, goldenen und schwarzen Schildern fotografiert, die zum Teil noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammten und deren einfache Werbewirksamkeit ich sehr mochte.

Was fehlte Ihnen bei der Arbeit in einer Werbeagentur?
Mir war der geforderte Konformismus zu wenig. Mir fehlte der lebendige Bezug zu unserer Existenz. Dem ständig normenfördernden Maßstab dienen zu müssen, der das Authentische so bedrängt, gar zerstören kann, wollte ich entfliehen. Nicht zuletzt meine Erlebnisse mit Fotografen und Menschen während verschiedener Werbeproduktionen bestärkten mich, selbst Fotografin zu werden. Das Leben bejahende Momente erfassen und darüber in meiner Bildsprache erzählen, wurde mir wichtig und wesentlich.

Mit welchen Kamera-Modellen haben Sie bevorzugt gearbeitet?
Seit Mitte der 1980er-Jahre arbeite ich mit Leica Kameras. Mit einer M6 und einer M7, heute mit einer digitalen M10.

Sie haben auf unzähligen Reisen die Welt entdeckt – in Wien lenkten Sie den Blick insbesondere auf die Dachlandschaften. Was ist Ihnen an diesem Projekt besonders wichtig?
Das Atmosphärische einer Stadt kann man am Beispiel unserer Ringstraße deutlich spüren. Zum Ende der Monarchie entstand diese Selbstdarstellung der Metropole des Habsburger-Reichs. Die Erbauer, ein Mitgestalter wie der Architekt Theophil von Hansen, waren noch verbunden mit der antiken griechischen Götterwelt. Im Zusammenspiel mit vielen Bildhauern schafften sie es, mit ihren Kolossalfiguren so etwas wie einen Olymp über Wien zu errichten. Göttlicher Ernst und südliche Heiterkeit schweben zuweilen über unserer Stadt. Diesen Göttern, für immer an die Dachränder bedeutender Häuser unserer Stadt verbannt, wollte ich näherkommen. Der Perspektivenwechsel ist verblüffend und verlockend. Hinaufzukommen war nie leicht, doch man darf sich nicht beirren lassen.

Welche neuen Erkenntnisse haben Sie durch die Ausblicke und Dachlandschaften über die Stadt gewonnen?
Generell das Spiel Macht-Ohnmacht und wie wir Menschen, in welcher Position immer, Teil dieses unfassbar ernsten, blutigen, gelegentlich auch heiteren oder großzügigen Treibens sein können. Ich glaube, es gibt keine europäische Stadt des 19. Jahrhunderts, die sich so intensiv mit dieser Götterwelt eingelassen hat wie Wien. Sich mit der griechischen Antike auseinanderzusetzen ist ein Gewinn!

Mit der Figur der Göttin Fama auf der Hofburg verbindet Sie eine besondere Beziehung?
Fama, die Göttin des Gerüchts, eine fünf Meter hohe Kolossalfigur auf der Neuen Hofburg musste zur Erde, auf den Heldenplatz, gebracht werden. Die Eisenplatte, die mit dem Sockel verbunden ist, war durchgerostet. Auf Erden wurde sie von einer Metallrestauratorin gründlich hergerichtet und wieder höhentauglich gemacht. Fama, laut Ovid, die Botin von Wahrheit und Lüge, deren Inhalte nicht voneinander unterscheidbar sind, ist keine Gottheit im eigentlichen Sinne. In der griechischen und römischen Mythologie ist sie eher eine Erfindung der Dichtkunst. Der Beweis dafür ist, dass alles, was erzählt wird, auch in der Welt ist! Und diese Fama thront auf der Neuen Hofburg – vis-à-vis von Fortuna, der unzuverlässigen Göttin des Glücks. Zufall oder Überlegung der Erbauer der Neuen Hofburg, dieses Paar, links und rechts, hoch über dem berüchtigten „Hitler-Balkon“, brachte dem letzten Kaiser der Habsburger kein Glück.

Derzeit bereiten Sie mit Hochdruck eine Ausstellung im Theatermuseum Wien vor – was waren die größten Überraschungen oder Entdeckungen bei den Vorbereitungen?
Wie viel mehr man festgehalten hat, als man überhaupt zeigen kann. Theater findet für mich nicht nur an der Rampe statt. Zum Gelingen eines jeden Abends sind sehr viele Mitwirkende, viel wunderbares Handwerk im Hintergrund nötig. Auch das wollte ich festhalten.

Sie verzichten auf eine klassische Rahmung und haben sich für eine besondere Präsentation Ihrer Prints im Museum entschieden.
Ja, als freischwebende Bilder, zu kleinen Erzählungen gebündelt. Vorgestellt werden Stücke, die ich seit 1979, während der Direktionszeit von Achim Benning und danach bis 1991 begleitet habe. Die Besucher können nicht nur, sie sollen und dürfen die Bilder berühren.

Was bedeutet das Fotografieren für Sie?
Ich verstehe meine Arbeit immer als Suche, in lebendige Verbindung zu meinem Gegenüber zu kommen, das Authentische zwischen uns zu ermöglichen. Eine Erzählung schaffen, die berührt, weil sie das Menschliche in uns ehrt, achtet und ermutigen möchte.

Christine de Grancy, am 18. Mai 1942 in Brünn (heute Brno, Tschechien) geboren, wuchs in Berlin und in der Lüneburger Heide auf, bevor sie mit ihrer Mutter nach Graz zog. Dort studierte sie an der Kunstgewerbeschule die Fächer Keramik, Töpferei und Gebrauchsgrafik. Seit 1963 lebt sie in Wien und arbeitete in Werbeagenturen als Grafikerin und Art-Direktorin. Im Anschluss an einen mehrmonatigen Aufenthalt in Patmos begann sie sich 1977 der Fotografie zu widmen. Ihre Reisen führten sie unter anderem nach Griechenland, Japan, Portugal, Algerien, China, Tibet, Pakistan, der Türkei, Georgien, Russland, Niger und Mali. Die Aufnahmen wurden in vielen Magazinen und Bildbänden veröffentlicht und in zahlreichen Ausstellungen präsentiert. Bevorzugt arbeitet sie in Schwarzweiß.

Das Theatermuseum in Wien zeigt vom 3. Juni bis zum 7. November 2022 die Ausstellung Sturm und Spiel. Die Theaterphotographie der Christine de Grancy.

2021 erschien im Verlag Die2 der Bildband Über der Welt und den Zeiten, ein Buch über die Wiener Dachlandschaften.

Die LFI präsentiert in der Ausgabe 4/2022 Christine de Grancy als Leica Klassikerin.

Die Leica. Gestern. Heute. Morgen.

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