Der Innenraum des Autos als stellvertretendes Spiegelbild menschlicher Persönlichkeit: Wie ein Voyeur reist Leica Fotograf Julian A. Kramer durch verschiedene Länder und Kulturen und blickt durch das Autofenster in die Leben ganz unterschiedlicher Menschen. Ob in Deutschland, den USA, Japan oder dem Vereinigten Königreich: Seine Serie schickt den Betrachter auf eine imaginäre Reise, die dazu einlädt, das Bild einer Person zu imaginieren, die man nicht sieht.

Wie entstand die Idee, Innenräume von Autos zu fotografieren?

Bei einem Spaziergang am Elbstrand sah ich in einem Auto einen Fisch auf dem Fahrersitz liegen. Das Bild war schnell geschossen, aber die Fragen nach dem Wer und Warum als Thema faszinierten mich. Als ich mich noch an die Herkunft des Wortes „Auto“ erinnerte, wurde schnell eine Serie daraus. Im altgriechischen bedeutet αὐτός/autos „selbst“ – in gewissem Sinne werden mir also Porträts von Autos und Selbstporträts ihrer Besitzer zum Fotografieren überlassen.

Das Auto als zweites Zuhause – was sagt es über den Menschen aus?

Das Auto ist ein zweites Wohnzimmer, aber auch ein „Welten-Verbinder“, es verbindet verschiedene Lebensabschnitte und Rollen nicht nur geografisch miteinander. Die Artefakte in unseren Autos spiegeln unterschiedliche Welten wider, zugleich auch den Übergang zwischen diesen Welten aus aktiv gelebtem Leben – von der Arbeit bis zum Kinderfußballturnier.

Sie haben Autos rund um den Globus fotografiert, sind diese auch ein Abbild von Kultur und Nationalität?

Absolut. Man bemerkt insbesondere den Stellenwert der Mobilität in den einzelnen Ländern: verbeulte Kisten in Paris, Microcars in Asien, Pragmatisches in Skandinavien, den Truck im ländlichen Amerika und den Ingenieurs-Stolz aus Deutschland.

Worin unterscheiden sich die Innenräume in den einzelnen Ländern und was ist ihnen gemeinsam?

Man blickt direkt auf das Wohlstands- und Sicherheitsgefälle in der Welt. In Stockholm sieht man MacBooks auf dem Beifahrersitz, das ist in Barcelona undenkbar. Es wird gern personalisiert – mit Manga-Figuren in Japan oder in Südafrika durch die Wahl der Ersatzteile. In den USA unterscheiden sich die Städte dramatisch: In Los Angeles leben die Menschen im übertragenen Sinn in ihrem Auto, in San Francisco tatsächlich – bedingt durch die Wohnungsnot. Allen gemein ist das omnipräsente, weiße iPhone Ladekabel …

Haben Sie Ihre Motive gesucht oder sind sie Ihnen zufällig begegnet?

Ich habe die Kamera jeden Tag dabei, von daher gab es viele spontane Entdeckungen. Ich bin einfach die Straßen entlang geschlendert, dabei wurde manchmal ein Wohngebiet ein reiches Jagdrevier. Im Ausland bin ich gezielter losgezogen: In Tokio gibt es kein Parken in der Straße, da musste ich dann durch Tiefgaragen schleichen und die Treffpunkte der Szenen ausfindig machen. In Kapstadt muss man sich die Viertel gut überlegen, in denen man sich aufhält. Dort bleibt man nicht zu lange an einem Ort, grast immer nur einen Block ab, anders kann es in den interessanten Ecken auch gefährlich werden.

Welche Herausforderungen gab es für Sie beim Fotografieren, besonders im Hinblick auf die Spiegelungen?

Ich habe lange experimentiert. Der Versuch, die Spiegelungen der Umwelt aktiv mit speziellen Linsenhauben herauszuhalten, ergab zu sterile Bilder. Irgendwann habe ich die Spiegelungen dann als gestalterisches Element mit eingebaut. Sie liefern einfach mehr Kontext, zum Beispiel darüber, wo sich das Auto befindet. Die Vorstellungskraft wandert schneller und reimt sich eine Geschichte über den Halter zusammen. Was sich am meisten bewährte, war eine Mischung aus Polfilter, zur Not einer schwarzen Jacke oder einem dunklen Pullover, mit dem ich bestimmte Bereiche „entspiegeln“ konnte, um ins Auto zu sehen.

Ist das Autofenster für Sie ein Mittel für die nötige Distanz?

Ein Verleger war einmal enttäuscht, dass ich nicht „im“ Auto fotografiert habe, doch damit überschritte man schnell die Grenze zur Inszenierung. Mit dem Fenster bleibt die Szene ungestellt. Das Autofenster ist gleichermaßen Trennung zur Außenwelt und eine Einladung hineinzusehen. Oft realisieren Gesprächspartner erst, wie persönlich, ja intim, ein Innenraum eigentlich sein kann, wenn sie von meinem Projekt hören. Und darin liegt ein Aspekt der Kunst: Den Menschen für einen Moment anders über seine Welt nachdenken zu lassen.

Ihre Bilder kommen ohne den Menschen aus, erzählen aber etwas über ihn. Gab es auch persönliche Begegnungen?

Mit einem oder zwei aus Hunderten. Schmunzeln musste ich über einen Vater, der sich peinlich berührt und augenrollend entschuldigte, dass das Auto seinem Sohn gehöre: Es hatte Sitzbezüge mit Hanfblättern und Alkoholika drauf. Ein anderes Mal hat ein tobender Pudel den schlafenden Besitzer auf der Rückbank geweckt. Tatsächlich hatte ich mehr Kontakt mit Passanten, es kommt nicht überall gut an, sich unter einem schwarzen Stück Stoff an einem Beifahrerfenster zu schaffen zu machen … Das ein oder andere Mal musste ich rennen, um die Situation aus sicherer Distanz erklären zu können.

Ist Ihre Serie voyeuristisch?

Die Einblicke sind voyeuristisch und anonym. Gleichzeitig gibt es „keine Auflösung“; wir werden die Menschen nie sehen. Sie erscheinen in unserer Fantasie, sie konfrontieren uns mit unseren eigenen Stereotypen und Klischees. Das war auch das unerwartet Schönste auf der ersten Vernissage meiner Arbeiten in New York: Die Gäste schmückten sich gegenseitig aus, wem das Auto wohl gehöre.

Welche Bedeutung hat das Auto heute?

Ich denke, wir befinden uns da gerade an einem spannenden Umbruch: Das Auto als Bereiter von Freiheit verändert sich. Individualmobilität und Besitz spielen in jüngeren Generationen eine untergeordnete Rolle, Leasing und Shared Mobility machen das Auto zunehmend unpersönlicher. Wird in der Zukunft des autonomen Fahrens das Auto nur noch digital auf Monitoren „personalisiert“? Wir werden es sehen – und ich glaube, diese Serie wird in 30 Jahren noch spannender sein als heute.


Julian A. Kramer ist nebenberuflich als Fotokünstler tätig und konzentriert sich auf Dokumentar- und Street Photography. Seine Autoporträts sind ein typisches Beispiel seiner Arbeit: Er fotografiert, was seine Aufmerksamkeit erregt. In fünf Jahren hat er für die Serie mehr als 1500 Bilder weltweit produziert, vom 8. Juli bis zum 20. August 2022 ist sie als Teil der Ausstellung Ignition in der Leica Galerie München mit zehn großformatigen und zirka 30 begleitenden Abzügen zu sehen.

Erfahren Sie mehr über die Fotografie von Julian A. Kramer auf seiner Website und auf seinem Instagram-Kanal.